Alle Jahre wieder. Ein typischer Agenturspot zeigt die SPÖ-Chefin mit betroffenem Blick in bedeutungsvollen Aufnahmen. Er soll den Kontrast der Medizinerin zum kalten Kanzler Sebastian Kurz darstellen und suggerieren wie empathisch sie sich für die Menschen einsetzen würde, wäre nur sie an seiner Stelle. Der mächtige Wiener Bürgermeister Michael Ludwig befindet, es sei ein "Glück", Rendi-Wagner an der Spitze zu haben. Die SPÖ demonstriert Einigkeit und Geschlossenheit. Man setzt auf das Konzept “Kooperation vor Konkurrenz“ nicht nur in den eigenen Reihen, sondern ebenfalls als Leitmodell für die Gesellschaft. Dies soll das Gegenmodell zu den Karrieristen der neuen Volkspartei sein. Dann kommt der Höhepunkt. Rendi-Wagner erhält mit 75,3 Prozent das historisch schlechteste Ergebnis bei einer SPÖ-Vorsitzwahl ohne Gegenkandidaten. Da bekommt der sozialdemokratische Gruß “Freundschaft“ eine ganz neue Bedeutung.

Glaubwürdigkeit und Authentizität

Die große Frage, die sich im Kontext der oberflächlich professionellen Performance der Sozialdemokratischen Partei Österreichs stellt, ist, ob ihre heutigen Repräsentanten in den Augen der potenziellen Wähler die Werte authentisch und glaubwürdig vertreten, die sie für diese darstellen wollen. Kann Rendi-Wagner trotz ihrer zur Schau gestellten Herkunft aus eher einfachen Verhältnissen und der Genese zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter bei Menschen aus sozial prekären Bevölkerungsschichten punkten? Oder steht diese für einen Typus Sozialdemokratin, der kraft der Macht des Systems Karriere machen konnte und für den es ab einem Punkt ohne Tiefen nur mehr bergauf ging? Und das gerade aufgrund der Tatsache, dass ihre sozialdemokratischen Vorgänger Rahmenbedingungen geschaffen haben, die ihr Studium und Aufstieg ermöglichten?

Rendi-Wagner beim Parteitag am Sonntag.
Foto: derstandard.at/daniel novotny

Psychogramm der SPÖ über die Zeit

In guten alten Tagen verfügte die SPÖ über Persönlichkeiten von Bruno Kreisky über Christian Broda bis Hertha Firnberg in einer Regierung. Heute heißen etwas frei gewählt die Pendants Pamela Rendi-Wagner, Jörg Leichtfried oder Doris Bures. Wie sang schon Bob Dylan “The Times They Are a-Changin’“. Die drei erstgenannten Persönlichkeiten stehen für Lebenserfahrung und persönliche Reife, die nicht nur durch einen natürlichen Alterungsprozess erklärbar sind. Sie haben die Höhen und vor allem die Tiefen des Lebens kennengelernt und dies prägt einen Menschen in anderer Art und Weise als sich bei parteiinternen Debattierklubs zu stählen. Wer wirklich Existenzängste durchgemacht hat, der kann die Gefühlslage und die Entwicklung von jenen verstehen, die nicht auf der Butterseite des Lebens gelandet sind. Dies machte die Sozialdemokraten von früher aus und hier liegt der elementare Unterschied zu den Genossen von heute.

Ein Gruppendynamik-Seminar als Intervention ist zu wenig

Michael Ludwig erklärte im STANDARD-Interview “Wir sind eine politische Organisation und kein Sesselkreis, kein Gruppendynamik-Seminar“. Bekanntlich kennt das Unbewusste des Seelischen keine Verneinung und dem Bürgermeister ist ungewollt eine wahre Diagnose nur in verneinter Form herausgerutscht. Noch besser ist da die vollmundige Ansage der SPÖ-Vorsitzenden, dass Österreich wieder in Balance zu bringen wäre. Vielleicht sollte man vorher bei der eigenen Partei anfangen. Spannend ist, dass beide Feststellungen noch vor dem negativen Parteitagsergebnis, welches durchaus mehr als nur ein Indikator für den Zustand der Sozialdemokratie ist, verkündet wurden. Die so stolze Bewegung braucht viel mehr als lustige Sesselkreise oder Gruppendynamik-Seminare. Da liegt der Wiener Bürgermeister unbewusst schon richtig. Sie braucht eine ehrliche Diagnose ihres Status quo und des Potenzials ihres Führungspersonals ohne Verdrängungsmechanismen. Dafür reichen die Erkenntnisse der Medizin alleine nicht aus. (Daniel Witzeling, 29.6.2021)

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