Amythyst Kiah hat mit 17 Jahren ihre Mutter verloren, Allison Russell wurde von ihrem Stiefvater missbraucht; auf "Wary + Strange" stellt sie sich dem Trauma.

Rounder

Missbrauch, Suizid und Hillbilly-Kultur. Aus derlei Zutaten haben US-Autorinnen wie Flannery O’Connor Abgründe beleuchtende Bücher geschrieben, die dem Begriff "American Gothic" zugerechnet werden: Schauergeschichten aus dem Leben im US-Süden. Berichte über ungesunde Blutsverwandtschaft, Gewalt und Tod. 2021 erweitert sich das Spektrum um Angststörungen und ein lesbisches Leben in ebenjenem Landstrich, der eher für selbstgebrannten Schnaps als für seine Toleranz bekannt ist. Dorthin hat das Schicksal Amythyst Kiah verpflanzt.

Die 34-jährige Musikerin mit der an Percy Sledge erinnernden Zahnlücke vorn mittig hat eben das Album Wary + Strange veröffentlicht.

Kiah wuchs als schwarzer Nerd auf, wie sie in einem Interview über sich selbst sagt. Als sie 17 war, nahm sich ihre Mutter das Leben und überließ dem ob seiner Homosexualität ohnehin um seinen Platz in der Welt ringenden Mädchen eine Bürde, die es ohne Therapie nicht hätte bewältigen können. Mit ihrem Vater zog sie in ein Kaff in Tennessee, in dem sich Kiah den Themen Ablehnung und Angststörung mit neumoderner Industrial Music und Metal stellte; das gab ihr etwas Halt.

Von diesen Einflüssen ist auf ihrem Album nichts hörbar. Nach einem eher amateurhaften Debüt eignete sie sich in den letzten Jahren eine eigene Handschrift an, die sie gleichzeitig in die afroamerikanische Tradition führte. Ihr Stil nährt sich von Country-Blues, Gospel oder alter Appalachen-Musik.

In den Boden gestampft

Bei diesem Werdegang lernte sie Selbstvertrauen und Allison Russell kennen. Mit ihr und Leyla McCalla und Rhiannon Giddens gründete Kiah die Band Our Native Daughters. Vier schwarze Frauen mit Banjos im Anschlag, die im Rahmen eines Kulturprojekts der Dominanz der Weißen in der Geschichtsschreibung der Hillbilly-Music entgegentraten. Schon die Native Daughters spielten sympathisch rumpelnde Hinterwäldlermusik, der die weibliche Perspektive einen neuen und zeitgenössischen Anstrich verlieh. Wer die Zusammenarbeit von Alison Krauss mit Robert Plant schätzt, wird davon nicht enttäuscht werden.

AmythystKiahVEVO

Ein Lied wie Black Myself von den Native Daughters findet sich neu eingespielt nun auf Kiahs Wary + Strange wieder. Es ist ein kleines autobiografisches Manifest der Selbstermächtigung, das sie erhobenen Hauptes im Vintage-Sound in den Boden stampft. Ihr Outfit illustriert die Herkunft dieser Musik ebenso wie die Hemdsärmeligkeit, mit der sie sensible Themen behandelt – ohne ihnen die Wirkung zu nehmen. Genau dieses Talent macht ihr Album besonders.

Überforderte Mutter

Allison Russells Solodebüt erschien kurz davor. Es trägt den programmatischen Titel Outside Child und streift immer wieder die Biografie ihrer Schöpferin. Als Russell vor 41 Jahren in Montreal auf die Welt kam, war ihre Mutter noch ein Teenager, ihr Vater, ein Austauschstudent, längst wieder zurück in seiner Heimat. Russells Mutter war mit dem Kind überfordert, folglich wuchs Allison bei Pflegeeltern auf, bis sie fünf Jahre alt war. Dann holte sie ihre leibliche Mutter zurück und heiratete einen Mann, der endlich das ersehnte Familienglück hätte bringen sollen. Das Gegenteil trat ein.

Ihr Stiefvater hat sie Jahre lang missbraucht: "Father used me like a wife, mother turned her blindest eye", singt Russell im Song 4th Day Prayer. Jahre später wurde ihr Peiniger aufgrund einer Initiative von Russell und der eines anderen Opfers vor Gericht gestellt und zu drei Jahren Haft verurteilt – wie Gerechtigkeit fühlt sich das für Russell nicht an.

Allison Russell

Doch nicht waidwund klingt Russell. Zwar kommt sie an dem Thema nicht vorbei, auch in früheren Veröffentlichungen mit Bands wie den Po’ Girls war es präsent. Doch sie stellt sich ihm heute aus einer Position der Stärke. Das erlaubt ihr, diese Erlebnisse in feinfühlige Soul-Balladen zu verpacken: Ein verschlurfter Beat hier, ein verwischtes Kleinod dort, selbst für diese Musik ungewöhnliche Instrumente wie die Oboe kommen zum Einsatz. Die Stimmung ist intim, die Produktion patiniert – so wie man sie von vielen Arbeiten des Produzenten Joe Henry kennt. Eine Art Kammer-Soul entsteht so.

Allison Russell.
Fantasy Rec.

Da und dort gleitet sie stilsicher ins Französische ab, elegant kehrt sie wieder. Ein Lied wie The Hunters besitzt einen Country-Vibe, den eine Pedal-Steel-Gitarre unterstreicht, wieder andere Songs bemühen die Appalachen-Musik – doch nie so ungestüm, wie Amythyst Kiah das tut.

Keine Therapiesitzungen

Russell pflegt die Tradition anders. Ihre Musik wird in einem "truck stop" eher nicht reüssieren, Kiah hingegen ist ein Bier auf Haus sicher. Beide Arbeiten eint der Umstand, dass sich die Künstlerinnen ihren Traumata stellen, ohne dass daraus akustische Therapiesitzungen würden. So wie Kiah in Wild Turkey über den Verlust ihrer Mutter singt, stellt sie sich in die Nähe von Brittany Howard. Auch die frühere Sängerin der Alabama Shakes behandelt in ihrer Kunst Kindheitstraumata. Alle drei wählen dafür Stile, die bis zu den Pionierinnen der Popmusik zurückgehen, zu Big Mama Thornton oder Mamie Smith – schwarzen Frauen, deren Einfluss vielen gar nicht bewusst ist.

Brittany Howard wurde damit ein internationaler Star. Amythyst Kiah und Allison Russell könnten ihr nachfolgen. Denn nicht nur die Inhalte sind verwandt, die musikalischen Resultate auf diesen beiden Alben sind ebenso überzeugend. (Karl Fluch, 30.6.2021)