Der ehemalige Chefredakteur der "Zeit" versteht nicht, warum das deutschsprachige Feuilleton Identitätspolitik schlechtmacht.

Foto: Robert Newald

Sein Buch ist eine Aufforderung an Linke und Liberale, in die Offensive zu gehen und sich die Zukunft nicht von Reaktionären zerstören zu lassen. Für Die Kraft der Demokratie (Suhrkamp-Verlag), in dem Roger de Weck politische, ökonomische und ökologisch Wege aus der Krise aufzeigt, erhielt der Schweizer Publizist und Ökonom am Montag den Kreisky-Preis für das politische Buch des Jahres 2020.

STANDARD: Sie warnen in Ihrem Buch vor illiberalen Demokratien. Ist der Begriff nicht ein Widerspruch in sich?

De Weck: Ja, deshalb spreche ich von den Autoritärdemokraten, die die leere Hülle der Demokratie stehen lassen, sie aber füllen mit lauter Autoritärem. Die Demokratie will Macht stückeln, Autoritäre wollen alle Macht. Sie wollen das Parlament kontrollieren, die Justiz unter Druck setzen und die Medien unter ihre Einflusssphäre bringen.

STANDARD: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat die Justiz wiederholt angegriffen.

De Weck: Er ist wie Trump. Trump hat die Justiz unter Druck gesetzt und Staatsanwälte zu diffamieren und auszuschalten versucht. Wenn ein Regierungschef die Justiz bedrängt, dann begibt er sich auf den autoritären Weg.

STANDARD: In Ihrem Buch unterscheiden Sie die Begriffe Elite, Establishment und Promis. Elite ist bei Ihnen ein positiver Begriff.

De Weck: Reichtum hat mit Elite nichts zu tun. Sehr wohl aber mit Establishment. Wer Elite sein will, müsste zuerst Vorbild sein wollen, zum Zweiten langfristig denken und zum Dritten nicht an die die eigenen Interessen denken, sondern an die des Gemeinwohls.

STANDARD: Ihr Buch ist eine Antwort auf autoritäre Reaktionäre. Wen meinen Sie damit?

De Weck: Ich unterscheide klar zwischen Konservativen und Reaktionären, wohlwissend, dass ein Teil der Konservativen immer eine starke Tendenz zum Reaktionären hatte. Reaktionäre lehnen sich gegen die Grundwerte der Aufklärung, gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, für mich Nachhaltigkeit, auf.

STANDARD: Warum kommen sie damit durch?

De Weck: Was die Liberalen und die Linken verbindet, ist die Vorstellung, dass es bei allen Rückschlägen in der Welt auch große Fortschritte gibt. Meine Sorge ist, dass sich beide durch Reaktionäre verunsichern lassen, deren Agenda, Wortschatz und auch Politik übernehmen, wie die dänischen Sozialdemokraten. Deshalb setzt sich mein Buch mit der Argumentation der Reaktionäre auseinander, um Fortschrittsoptimisten zu munitionieren.

STANDARD: Die SPÖ hat einen Vorstoß gewagt, den Sie vielleicht als fortschrittsoptimistisch bezeichnen würden: Sie wollte den Zugang zur Staatsbürgerschaft für jene, die hier leben, arbeiten und Steuern zahlen, aber nicht wählen dürfen, erleichtern. Das wurde sofort kritisiert.

De Weck: Wer zu seinen Werten steht, hat mittelfristig Erfolg. Den Erfolg der Grünen in Europa etwa macht aus, dass sie nie ein Element der rechten Agenda übernommen haben. Sie stehen etwa zur multikulturellen Gesellschaft. Auch linke Parteien, die links geblieben sind, ohne fundamentalistisch zu werden, haben Erfolg, während sozialdemokratische Parteien, die dem Zeitgeist Toni Blairs, Gerhard Schröders oder Bill Clintons gefolgt sind, massiv geschwächt wurden.

STANDARD: In Österreich wird den Grünen derzeit vorgeworfen, alles mitzumachen, damit die Koalition hält. Ist das kein Verrat an Werten?

De Weck: Das Verhängnis der Grünen in Österreich, ist, dass sie in die Regierung gingen, um ökologische Anliegen umzusetzen. Doch wer Umweltpolitik nicht verknüpft mit Sozialpolitik, gefährdet seine Glaubwürdigkeit. Die deutschen Grünen können da jetzt viel lernen.

STANDARD: Mit den Corona-Protesten schienen AfD und FPÖ kurz im Aufwind. Marine Le Pen hatte bei den Regionalwahlen am Wochenende weniger Zuspruch als erwartet. Hat Corona Rechtsextreme am Ende geschwächt?

De Weck: Jene, die wie Trump und Boris Johnson im Namen der sogenannten Freiheit anfangs nichts getan haben, beschädigten die Demokratie weit stärker als diejenigen, die der elementaren Aufgabe eines Staates nachkamen, nämlich das Leben der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Rechten sind jetzt in ganz Europa in der Defensive. Und Joe Biden fährt als Mitte-Politiker eine griffigere Umwelt- und Sozialpolitik als Grüne und Linke hier. Die Frage der Ungleichheit ist nicht mehr bloß eine linke Frage. Wenn 50 Menschen so viel Geld haben wie die arme Hälfte der Weltbevölkerung, stimmt was nicht. Ungleichheit ist Gift für die Demokratie.

STANDARD: Wie kann man die Klimakrise und die Umverteilungsfrage im Kapitalismus lösen?

De Weck: Ich bin kein Kapitalismuskritiker. Weil es im Moment keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Was mich noch stärker als die Gerechtigkeit interessiert, ist das Gleichgewicht. Gerechtigkeit ist eine moralische Kategorie. Ich bin Ökonom. Wenn der eine Produktionsfaktor, das Kapital, systematisch entlastet wird und der Produktionsfaktor Arbeit systematisch belastet wird, geht sich das nicht aus. Die Maximierung frisst ihre Kinder.

STANDARD: Wieso sollten die an den Schalthebeln der Macht nicht weitertun wie vor Corona?

De Weck: Die Generation von Greta Thunberg belebt unsere Demokratie massiv. Das Bewusstsein für Ungleichgewichte ist durch die Pandemie geschärft worden: zwischen Natur und Mensch, zwischen Arm und Reich und zwischen Mann und Frau. Die herrschende Minderheit der Männer hat realisiert, dass es wie immer in Extremlagen auf die Frauen ankommt. Außerdem ist mitten in der Pandemie eine antirassistische, soziale Bewegung gewachsen: Black Lives Matter. Dazu kommt die Infragestellung des Primats der Wirtschaft über die Politik. Diese Chance haben wir jetzt.

STANDARD: Wo sehen Sie bereits Fortschritte?

De Weck: Es ist bereits etwas passiert, das das gesamte deutschsprachige Feuilleton im Moment schlechtmacht: Identitätspolitik. Seit 1789 die Gleichheit postuliert wurde, haben Frauen und People of Color homöopathische Fortschritte in der Gleichstellung errungen. Jene, die zweieinhalb Jahrhunderte zugeschaut haben, empören sich nun, dass die, die benachteiligt wurden, das Thema auf die Machtebene verlagern. Es hat eine gewisse Umverteilung stattgefunden. Sie reicht noch nicht, aber viele Männer sind schon jetzt schwer gekränkt in ihrem Narzissmus.

STANDARD: Sind Sie Verfechter des Genderns?

De Weck: Ich hab keine Mühe mit dem Binnen-I, in Schweizer Medien ist die Doppelform seit 30, 40 Jahren gang und gäbe. Sie eröffnet schöne stilistische Möglichkeiten, manchmal erschwert sie auch das Schreiben, wie jede Konvention. Der ganze Kampf gegen die sogenannte politische Korrektheit ist ein Ablenkungsmanöver und wird von den Rechten deshalb so großgeschrieben, weil er Reaktionäre, Konservative und Linke föderiert. Oft wird jenen, die die Sprache fortentwickeln wollen, gesagt, sie seien autoritär. Aber es wäre noch autoritärer, die Sprache stehen zu lassen, weil jede Sprache sich fortentwickelt.

STANDARD: Wer das Privileg hatte, nicht diskriminiert zu werden, kann nun wohl eine Bedrohung sehen.

De Weck: Deshalb spielt aus meiner Sicht die Weiterentwicklung unserer Sprache eine große Rolle. Ich rede auch nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von Geflüchteten und Schutzsuchenden. Wer Geflüchteter sagt, hat das individuelle Schicksal von Menschen wie du und ich vor Augen. Solche sprachlichen Entwicklungen finde ich gut.

STANDARD: Am Ende Ihres Buches gibt es zwölf Lösungsvorschläge, auch die Idee eines Europäischen Gerichtshofs für die Rechte der Natur und einer zusätzlichen Kammer in Parlamenten für ökologische Fragen.

De Weck: Wir haben einen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, warum nicht auch einen für die Rechte der Natur? Vorbilder – allerdings mehr auf dem Papier – gibt es in Lateinamerika, in Ecuador und in Bolivien. Und ich freue mich, dass eine Gruppe von Parlamentarierinnen und Parlamentariern des Schweizer Nationalrats hier tätig wird. Demokratie ist in ihren Grundzügen im späten 18. Jahrhundert entstanden, wir sind jetzt im ökologisch-digitalen 21.Jahrhundert, und es gilt, manche Institutionen und Verfahren der liberalen Demokratie auf die Höhe dieses Jahrhunderts zu bringen. Die Ökologie ist das schwächste Glied in der politischen Kette. Man muss es institutionell stärken.

STANDARD: Sie machen sich auch für die Seenotrettung Geflüchteter stark.

De Weck: Ich bin bei SOS Mediterranée Schweiz, weil es schlicht nicht geht, Menschen ertrinken zu lassen. Nehmen Sie eine Sekunde an, in der Hölle der libyschen Internierungslager wären nicht Afrikanerinnen und Afrikaner, sondern Österreicher und Österreicherinnen. Es ist Rassismus pur zu sagen, man soll sie ertrinken lassen, und das schrecke andere Migrantinnen und Migranten ab. Was im Übrigen überhaupt nicht stimmt. (Colette M. Schmidt, 30.6.2021)