Immer noch herrscht beim Sex große Sprachlosigkeit. Wir alle haben Bilder und "Regeln" im Kopf und fest in unserem Verhalten verankert, die uns oft mehr im Weg stehen, als uns in unserem freudigen, lustvollen, freien (Sex-)Leben unterstützen. Denn guter Sex kann doch eindeutig viel mehr sein als ein rascher orgiastischer Rausch.

Mehr Lust, mehr Genuss

Ich arbeite tagtäglich mit Menschen, die ihre Beziehungen und ihre Sexualität verbessern wollen. Da geht’s um kein Leistungsprinzip, sondern meistens um Erregung, Verführung, um Entspannung zum Genuss, um Intensität. Ob Singles oder Menschen in Beziehung, ob junge Erwachsene oder schon längst im "Ruhestand". Oft kommen Paare, oft Frauen alleine, manchmal auch Männer. Viele "sollten oder müssten" mal wieder Lust haben. Wenn ich etwas muss, wird es unglaublich schwer, es auch zu wollen. Was viele gemeinsam haben? Sie haben Lust auf mehr Lebendigkeit, Freude, Genuss und Erotik, Sexualität, die nährend und wohltuend ist.

Viele Frauen spielen beim Sex immer noch mit, es geht oft klar darum, "gut im Bett zu sein", statt den Mut, die Freude, die Selbstverständlichkeit zu haben, den Sex so zu gestalten, dass er den eigenen Bedürfnissen entspricht. Andere Frauen warten lustlos ab, bis er fertig ist. Warum ist Sex immer erst zu Ende, wenn er gekommen ist? Warum viele Frauen von ihrer natürlichen, lustvollen Sexualität so weit weg sind, hat natürlich eine lange Geschichte, die weit zurückreicht.

Warum wir Frauen heute da stehen, wo wir eben stehen

In aller Kürze, da die Entwicklungsgeschichte Büchereien füllt: Das menschliche Rollenverhalten entwickelte und veränderte sich über viele hunderttausend Jahre hinweg vom Sammler zum Jäger, über Nomadenleben zur Sesshaftigkeit, es wird sich auch immer weiterentwickeln.

Spätestens seit es um Besitz wie Ländereien (Macht!) ging, wollte Mann wissen, welche seine Kinder sind. Die Treue der Frauen wurde immer wichtiger, denn die simple Formel lautete: überleben, fortpflanzen, vererben. Im Prinzip erklärten alle Religionen den Frauen unisono, entweder sind sie Heilige oder Hure.

Auch sexuell dürfen sich Frauen mehr ausprobieren und zutrauen.
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Weibliche Lust hat Autonomie und Macht

Frauen, die ihre sexuelle Lust und Freude (aus-)leben können, sind weniger leicht in ihrer Persönlichkeit zu unterdrücken. Eine Kombination, die Männern auch durchaus Angst machen kann, vor allem dann, wenn die Gesellschaft den sexuellen Bedürfnissen von Frauen kritisch und einengend gegenübersteht. Sandra Konrad hat hierüber schon 2018 ein Buch geschrieben – "Das beherrschte Geschlecht – Warum sie will, was er will" –, in dem sie auch herausarbeitet, wie explosiv die Mischung aus Scham, Schuld, Hass und unterdrückter Begierde sein kann. Das erleben wir immer wieder, ob im Mittelalter oder auch immer noch in unseren Tagen – ob im Katholizismus oder in anderen Religionen beziehungsweise Kulturen.

Warum die Lust der Frauen auch politisch ist

In vielen Teilen der Welt haben Frauen heute aufgrund von sozial- und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten und besseren Ausbildungen die Möglichkeit, selbst für sich wählen und sorgen zu können. Frauen brauchen also keine "mächtigen" Männer mehr, von denen sie abhängig sind, sie wollen ein Umfeld, in dem möglichst viele Menschen selbstwirksam, wach und miteinander gestalten, sich niemand wegen Geschlecht, Religion, et cetera unterzuordnen hat.

Viele Frauen haben heute vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit und – ja, nennen wir es beim Namen – die Eigen-Macht, sich von eingeübter Minderwertigkeit und unpassenden, überholten, verschrobenen Normen zu lösen. Beide (alle) Geschlechter, jeder Mensch, könnte davon profitieren, wenn Frau dies tatsächlich wagt und tut. Jeder Mann ist eingeladen, mitzumachen.

"Für Frauen" heißt keinesfalls "gegen Männer"

Im Prinzip ist jetzt eine gute Zeit, in der Frau sich deutlich mehr (zu-)trauen darf. Wie will Frau wirklich leben? Was ist wirklich wichtig? Ja, auch beim Sex, aber auch generell. Schlussendlich hängt alles zusammen – denn wir können kaum ein erfüllendes, lustvolles, freudiges Sexualleben in einem fremdbestimmten oder vom Alltagsstress dominierten Leben entfalten. Es darf aber bei der Entfaltung von selbstbestimmtem Frausein keinesfalls wieder um Normierung oder "Selbstoptimierung" gehen, sondern weg vom "Gefalle ich?" hin zum "Gefällt mir das?"

Männerrollen entwickeln sich klar mit, viele Männer sind aktuell auf der Suche und auch ziemlich verunsichert. Was darf Mann noch, was keinesfalls? Es wäre so wunderbar, wir könnten gemeinsam, über Geschlechtergrenzen und -normen hinweg, ein freudiges, angstfreies Miteinander gestalten! Was hindert uns eigentlich?

Svenja Flaßpöhler fragt in ihrem Büchlein "Die potente Frau": Um wie vieles reicher würde eine Kultur sein, in der Gleichberechtigung auch im Sexuellen gelingt – dann könnten wir uns alle in der Fülle begegnen. Dann gelänge ein gemeinsames, freies, freudiges Miteinander viel einfacher.

Sexuelle Spielräume weiten, sexuell erwachsen werden

Ob uns mangelndes Wissen – ich sag nur als Beispiel Vulva oder Vagina –, sogenannte Glaubenssätze über richtig oder falsch beziehungsweise "Was ist eigentlich alles Sex?" im Weg stehen oder auch fehlende Entspannung, um unsere eigenen Bedürfnisse wirklich gut zu spüren, es gibt Möglichkeiten und Spielräume, die erobert werden wollen. Ganz ohne Muss, sondern entspannt, mit Lust, Genuss und ganz spielerisch, im eigenen Tempo, einfach, weil es unglaublich guttut, sich selbst (und unsere Liebsten) mit allen Sinnen zu spüren, zu genießen.

Kontrolle versus Lust

Viele Frauen sind heute in Situationen, in denen sie viel beziehungsweise zu viel Verantwortung tragen. Wodurch auch immer, ob Job, Job und Beziehung, Job und Beziehung und Kinder – vielerorts gilt es, Herausforderungen zu meistern. Kontrolle, Fremdbestimmtheit, Überforderung, all das über einen längeren Zeitraum verhindert selbstverständlich Entspannung und natürlich auch Hingabe. Frau braucht oft erst Entspannung, bevor sie sich mit Lust und Freude der Sexualität widmen kann. Ich möchte hier jede Frau anregen, sich, so gut es geht, Unterstützung zu holen, um auch Zeit, Raum, Möglichkeiten zu haben, mal wieder überhaupt "zu sich" zu kommen. Vor allem, wenn Sie wieder Lust auf mehr Lust haben. (Nicole Siller, 2.7.2021)