Das Pflegesystem ist in Österreich wie in Deutschland aufgrund der demografischen Entwicklung am Anschlag.

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Erst war es die Pandemie, nun ist es ein Urteil des deutschen Bundesarbeitsgerichts, das die Situation von 24-Stunden-Betreuerinnen wieder in den Fokus rückt. Das Gericht stellte kürzlich fest, dass jenen Frauen, die vornehmlich aus Ost- und Südosteuropa in den Westen kommen, um dort alte Menschen zu pflegen und zu umsorgen, der gesetzliche Mindestlohn zusteht. Das stellt die deutsche Pflegewelt auf den Kopf, würde es doch die Betreuung zwar fair gestalten, sie aber auch um ein Vielfaches teurer machen.

In Deutschland blickt man also ausgerechnet nach Österreich: Deutschland könne sich diesbezüglich Österreich zum Vorbild nehmen, meinte der dortige Gesundheitsminister Jens Spahn. Hier habe man für die Betreuung von Pflegebedürftigen durch ausländische Arbeitskräfte schon vor Jahren einen eigenen regulatorischen Rahmen geschaffen, darin seien Arbeitsschutz und Arbeitszeiten geregelt.

Scheinselbstständigkeit und offene Türen für Ausbeutung

Nur: In Österreich ist die 24-Stunden-Betreuung zwar anders geregelt, aber nicht weniger prekär. Während in Deutschland, so schätzt der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege, 90 Prozent der Fälle von Betreuung in häuslicher Gemeinschaft in Schwarzarbeit erbracht werden, sind in Österreich die allermeisten 24-Stunden-Betreuerinnen, nämlich 98 Prozent, selbstständig. Zumindest auf dem Papier.

In der Realität, so hielt am Donnerstag auch Amnesty International (AI) fest, seien diese Arbeitskräfte häufig scheinselbstständig: "Es fehlt an Autonomie, sie können weder Honorar noch Arbeitszeit selbst bestimmen oder ausverhandeln, und sie sind in einem Abhängigkeitsverhältnis", sagt Teresa Hatzl, zuständige Advocacy & Research Officer bei AI. Menschenrechte wie das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen, fairen Lohn und soziale Sicherheit seien "nicht garantiert und werden regelmäßig missachtet", sagt Hatzl. "Das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt Ausbeutung von 24-Stunden-Betreuerinnen im großen Stil zu", sagt Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich, anlässlich der Präsentation eines Berichts zum Thema.

Stundenlohn von zwei bis drei Euro

In Österreich pflegen rund 60.000 Betreuerinnen – der Frauenanteil in dem Beruf liegt bei 92 Prozent –, vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei, rund um die Uhr 30.000 Seniorinnen und Senioren. Sie verdienen dabei im Durchschnitt zwischen zwei und drei Euro die Stunde. Arbeitsmigrantinnen, so sagt Schlack, seien doppelter Diskriminierung ausgesetzt: einerseits, weil Frauen in Österreich um durchschnittlich 19 Prozent weniger verdienen als Männer, Migrantinnen würden zudem um 27 Prozent weniger verdienen als Inländerinnen.

Dazu, so wurde AI im Zuge der Recherchen berichtet, würden Pausen oft nur auf dem Papier existieren, das Recht auf Ruhezeiten gelte nicht. Betreuerinnen hätten in Interviews erzählt, dass sie sich "nicht wie Menschen behandelt fühlen, sondern wie Roboter", sagt Hatzl. AI fordert als Resultat des Berichts ein rechtliches Rahmenwerk, das sicherstelle, dass 24-Stunden-Betreuerinnen faire Arbeitsbedingungen zustehen, dass diese bei Kontrollbesuchen überprüft werden und dass Agenturen, die die Frauen vermitteln, flächendeckend zertifiziert werden. Zumindest Letzteres ist auch in den Plänen zur österreichischen Pflegereform vorgesehen. (Gabriele Scherndl, 1.7.2021)