Im angloamerikanischen Raum ist es durchaus üblich, dass Anwärter für Posten im mittleren oder gehobenen Management in einem Unternehmen mittels Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik hinsichtlich der Anforderungen des Berufsprofils getestet werden. Hier geht es zumeist um die psychometrische Messung einer Kombination aus kognitiven Persönlichkeitsdimensionen wie Intelligenz und Konzentrationsfähigkeit gepaart mit anderen Variablen wie soziale Kompetenz und Belastbarkeit. Die Erhebung dieser objektivierbaren Faktoren soll dazu dienen, eine faire und transparente Personalauswahl oder Personalentwicklung zu gewährleisten. Zudem soll hiermit verhindert werden, dass eine Person in eine Funktion katapultiert wird, der sie sowohl emotional als auch bezüglich ihrer Fähigkeiten nicht gewachsen ist, was für diese Person langfristig möglicherweise zu Burnout und anderen psychischen Begleiterscheinungen führen könnte.

Die richtige Frau oder der richtige Mann auf dem richtigen Platz lautet zusammenfassend also die Devise. Ähnlich sollte es sich eigentlich in der Politik verhalten. Jedoch ist die Abwehr von derartigen Vorgangsweisen und Methoden zumeist groß. "Mir fehlt ja nichts", lautet da fälschlicherweise die Parole, da es hierbei keinesfalls um das Detektieren von Erkrankungen geht, sondern um das Entdecken von Potenzialen. Dies ist hierzulande allerdings selten erwünscht und speziell dann nicht, wenn es um höhere Ämter, die mit Macht verbunden sind. Eine besonders starke Abneigung gegen derartige Ansätze der Objektivierung kann man häufig dann beobachten, wenn es die eigenen Leute betrifft - und das quer über alle Parteien. Das Optimierungspotenzial sieht man im projektiven Sinne immer nur bei den anderen.

Ist sie die richtige für die Spitzenposition?
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Pamela Rendi-Wagner: Versuch einer Ferndiagnose

Die aktuelle SPÖ-Chefin hat zweifelsfrei ihre Vorteile. Sie ist akademisch mehr als gebildet, ist telegen und rhetorisch in der Lage, zusammenhängende Sätze zu formulieren. An Fleiß und Ehrgeiz mangelt es ihr wahrscheinlich ebenso wenig wie an Durchhaltevermögen und Belastbarkeit. Jedoch ist das Lernen von anatomischen Detailkenntnissen etwas anderes als die Zusammenhänge eines biopsychosozialen Gefüges namens Gesellschaft zu verstehen. Hier braucht man im Gegensatz zu schnödem Faktenwissen eine Art der instinktiven Intelligenz. Dies bedeutet aber die Rolle als Arzt, Jurist, Psychologe - oder was auch immer - sofort abzulegen und zu wissen, dass man nichts weiß.

Hierzu ein Fallbeispiel aus dem oft von Wien aus skeptisch beäugten Kärnten. Als die SPÖ ihre Hochburg Kärnten nach Leopold Wagner durch Peter Ambrozy, der als "Nebelkönig" in die Geschichte eingegangen ist, verloren hat, suchte sie händeringend nach einer Alternative gegen das politische Jahrhunderttalent Jörg Haider. Die Partei kam auf die Idee mit Michael Ausserwinkler einen Fachkollegen von Rendi-Wagner als Gegner zu Haider zu positionieren. Das Kalkül war einfach. Die Sozialdemokraten hofften, dass der bemühte Gott in Weiß dem rhetorisch eloquenten Bärentaler die Show stiehlt und das politische Framing eines lebendigen Arztromans auf das Feld der Politik umlegbar wäre. Ähnlich waren sicher Überlegungen bei der Auswahl der momentanen SPÖ-Vorsitzenden. Die Rechnung ging jedoch nicht auf, da sich Ausserwinkler schwer tat, seine Rolle als bemühter Arzt auf die Politbühne zu transferieren. Nachdem die SPÖ in den Landtagswahlen 1999 mit ihm als Spitzenkandidat auf den zweiten Platz zurückgefallen war, zog er sich aus der Politik zurück.

Die feinen Unterschiede

Doch worin lag der Unterschied in der praktischen Performance? Der eine war in seiner Rolle und der großen Erwartungshaltung gefangen und tat sich schwer einen Draht zu den Menschen zu finden. Der Wahlkärntner und Jurist legte beim Kontakt mit den Bürgern sämtliche Attitüden der Macht ab und bewegte sich auf Augenhöhe mit seinen Wählern. Mit diesem Kontrastphänomen gelang es ihm über Jahrzehnte neue Wähler, gerade bei anfangs skeptischen oder Haider ablehnenden Personen, zu mobilisieren. Hier findet sich eine Analogie zu Rendi-Wagner. Sie wurde - wie Ausserwinkler - viel zu hoch gehandelt, während Haider die psychologische Wirkung der Macht und Potenz ausstrahlte, aber gezielt je nach Gegenüber eher tiefstapelte. Mit dem Effekt: "Bist Du deppert, der Haider kennt mich" und der Steigerungsstufe "Woa, I hab gehört, der hat meinem Nachbarn geholfen". Diese Sätze werden Sie höchstwahrscheinlich heute nicht mehr in Zusammenhang mit aktuellen Spitzenpolitikern hören. Genau das war aber einmal die Stärke der SPÖ und sollte sie auch wieder sein.

Mit Hilfe von Social-Media-Teams Fotos von Leuten zu posten, denen man empathisch zuhört, wird bei den Menschen nicht ziehen, da diese spüren, dass es sich lediglich um einen oberflächlichen Formalakt zur Selbstinszenierung handelt. Sätze wie "Wie Sie wissen bin ich Chefin" oder "Ich habe Karriere gemacht", wird man von authentischen Personen nicht zu hören bekommen, da diese mit der Lösung von realen Problemen beschäftigt sind, als mit der mühevoll aufgesetzten Darstellung von Alltagsdilemmata, deren Lösung niemals intendiert waren. Über kurz oder lang wird sich weisen, ob die Ärztin an der Spitze der SPÖ das leicht skizzierte Anforderungsprofil erfüllen kann oder entwicklungstechnisch befähigt ist in dieses hineinzuwachsen. (Daniel Witzeling, 6.7.2021)

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