Die Überlastung der Rechtsmittelinstanz in Asylverfahren bestehe seit langer Zeit, der Grund sei eine personelle Schieflage, sagt Soziologe Wolfgang Gratz im Gastkommentar. Und er stellt die Frage: Wem nützt das?

Justizministerin Zadić: Auch das Innenministerium muss prüfen, wie Fehler vermieden werden können.
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Im Jahr 2006 war bei einer Tagung der österreichischen Juristenkommission davon die Rede, dass der Vorläufer des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) in Asylsachen, der Unabhängige Bundesasylsenat, mit der Aufarbeitung von Rechtsmitteln aus den Jahren 2001 und 2002 beschäftigt war. Bei 20.000 Asylanträgen im Jahr 2005 waren im Jahre 2006 38.000 Asylverfahren offen. Was auch ein Problem für den Strafvollzug mit seinem hohen Ausländeranteil bedeutete, da langjährige Asylverfahren ein kriminogener Faktor sind. Das heißt, dass Asylwerber bei gegebener individueller Verantwortung und Schuld eine statistisch erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Begehung von strafbaren Handlungen aufweisen, dies vor allem durch die existenzielle Ungewissheit und weitgehende Unmöglichkeit, ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen.

Die Probleme mit der Überlastung der Rechtsmittelinstanz in Asylverfahren bestehen somit seit geraumer Zeit.

Klare Schieflage

Die aktuelle Entwicklung zeigt: 2014 erledigte das Bundesamt für Fremden- und Asylwesen (BFA) 64.500 Verfahren mit rund 550 Mitarbeitern. Auf dem Höhepunkt der zahlenmäßigen Belastung im Jahr 2018 bearbeiteten rund 1400 Mitarbeiter 138.000 Fälle. Einer etwas mehr als verdoppelten Zahl an Verfahren stand eine knappe Verdreifachung der Mitarbeiterzahl gegenüber. Deren Zahl wurde auch in den Folgejahren bei sinkender Belastung in etwa beibehalten.

Gegen etwa 70 bis 80 Prozent (genaue Zahlen sind nicht veröffentlicht) aller negativen Asylentscheidungen erfolgen Rechtsmittel beim BVwG. Deren Erfolgsquote ist laut Statistiken des Bundesverwaltungsgerichts überdurchschnittlich hoch mit 40,5 gegenüber 26 Prozent in anderen Verfahren. Auf eine besondere Qualität der Entscheidungen erster Instanz kann daraus ebenso wenig geschlossen werden wie auf eine übertriebene Bereitschaft von Asylbewerbern zu Rechtsmitteln angesichts der hohen Erfolgsaussichten.

Überforderung unausweichlich

Die zahlenmäßige Entwicklung der Belastung des BVwG stellt sich folgendermaßen dar: 2014 gab es rund 21.000 neue Geschäftsfälle, 2017 41.000. Die Zahl der Richter stieg von 167 auf 219, die des Personals insgesamt von 426 auf 590. Dies entspricht einem Anstieg um ungefähr 30 Prozent gegenüber einer Verdoppelung des Neuanfalls. Die Zahl der insgesamt anhängigen Verfahren verdreifachte sich 2018 gegenüber 2014.

Um es auf einen einfachen allgemeinen Nenner zu bringen: Wenn die Ressourcen der ersten Instanz verdreifacht und die Kapazitäten der zweiten Instanz um lediglich 30 Prozent gesteigert werden, sind deren Überforderung und somit überlange Verfahrensdauern unausweichlich. Das BVwG machte darauf in seinen Jahresberichten unmissverständlich aufmerksam.

Clemens Jabloner schrieb in seinem Wahrnehmungsbericht im November 2019 als Justizminister, dass für den Abbau des Anhängigkeitsstandes bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen dreieinhalb Jahre erforderlich seien. Die mit langen Asylverfahren verbundenen Kosten (vor allem die Grundversorgung) würden die Kosten einer ausreichenden Ausstattung des BVwG deutlich übersteigen. Wörtlich: "Hinzu kommt, dass im Falle der Beibehaltung des Status quo die gesetzliche Entscheidungsfrist, die im Regelfall bei sechs, teilweise sogar bei nur drei Monaten liegt, nicht eingehalten werden kann."

"Offensichtlich besteht eine ausgeprägte Neigung, das Bundesministerium für Inneres deutlich besser zu dotieren als die Justiz."

Justizministerin Alma Zadić erklärte in der Kronen Zeitung vom 4. Juli 2021, dass seit ihrem Amtsantritt der Rückstau von 33.000 Beschwerdeverfahren auf 18.500 gesenkt wurde. Anstelle eines geplanten Abbaus von 80 Stellen seien 30 neu dazugekommen.

Wie sind diese Zahlen und Entwicklungen zu interpretieren? Budgetgesetze und Personalpläne gelten ganz allgemein als in Zahlen gegossene Politik. Offensichtlich besteht eine ausgeprägte Neigung, das Bundesministerium für Inneres deutlich besser zu dotieren als die Justiz. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die in ihren Entscheidungen unabhängige Rechtsprechung kurzgehalten werden soll.

Nach der angewandten Systemtheorie legen über längere Zeit hartnäckig bestehende Problemlagen nahe, dass wesentliche Akteure Gewinne, und seien es verborgene, davon haben.

Welche Hypothesen zu solchen möglichen Gewinnen bieten sich an? Eine könnte sein, das Asylwesen und die Asylwerber insgesamt durch die bei überlangen Verfahrensdauern verbundenen Problemlagen zu delegitimieren. Ein anderer Vorteil könnte darin bestehen, auf diese Weise die Basis für die Attacken gegen die Justiz zu legen und diese zu schwächen. Stichwort Ungarn oder Polen light.

Wieder "die Justiz"

Tatsächlich sind von türkiser Seite in den vergangenen Tagen aus Anlass des fürchterlichen Tötungsdeliktes einer 13-Jährigen Angriffe gegen das Bundesverwaltungsgericht und verallgemeinernd gegen "die Justiz" erfolgt, die von den Boulevardmedien bereitwillig und teilweise kampagnisierend aufgegriffen wurden.

Um ein Beispiel für eine parteipolitische Äußerung zu geben: Die Kronen Zeitung berichtete am 7. Juli über einen Krone.tv-Auftritt von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, die "die Justiz" in die Pflicht nahm. Demnach gebe es immer noch einen "Rucksack" an Verfahren aus der Flüchtlingskrise, der rasch abgearbeitet werden müsse.

Als Juristin und Staatsanwältin müsste die Ministerin eigentlich den rechtlichen Grundsatz kennen: "Ultra posse nemo tenetur" – von niemandem kann verlangt werden, etwas Unmögliches zu leisten. Dies gilt auch für die Gerichtsbarkeit. (Wolfgang Gratz, 15.7.2021)