Anwalt Werner Suppan setzte sich mit seiner Forderung nach einer richterlichen Einvernahme durch. Ob sein Drängen auch strategisch klug war, ist unter Rechtsanwälten umstritten.

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Wenn großes öffentliches Interesse besteht, sollte die Staatsanwaltschaft die Beweisaufnahme an das Gericht abgeben, damit ihre Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens "nicht von vornherein mit dem Makel der Voreingenommenheit behaftet wird". So argumentierte der damals schwarz-blau dominierte Justizausschuss im Jahr 2004 die "Sonderrechte" für öffentliche Personen in der Strafprozessordnung, die nun wegen der Ermittlungen gegen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) plötzlich im Fokus stehen.

Zur Anwendung gelangte der nun berüchtigte Paragraf 101 seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2008 nur in einer Handvoll von Fällen – und nie bei Politikerinnen und Politikern. Werner Suppan, Anwalt der ÖVP und auch von Kanzler Kurz, hat also "totes Recht" zum Leben erweckt.

Dass die Bestimmung bisher kaum Bedeutung hatte, verwundert. Zum einen ist der Gesetzeswortlaut relativ klar, wie auch Verfassungsjurist Heinz Mayer erklärte. Zum anderen mangelte es nicht gerade an Verfahren gegen hochrangige Beamte und Politiker. Dazu kommt, dass der Paragraf keine "Kann-Bestimmung" ist. Laut dem Wortlaut "hat" die Staatsanwaltschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Antrag auf gerichtliche Beweisaufnahme zu stellen.

Kann oder muss?

Wie aus einer Anfragebeantwortung im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) hervorgeht, sei die Staatsanwaltschaft aus Sicht des Ministeriums aber nicht in jedem "clamorosen" Fall verpflichtet, einen Antrag auf gerichtliche Beweisaufnahme zu stellen. Sie könne zunächst auch die Kriminalpolizei mit Ermittlungen beauftragen, sogleich Anklage erheben oder das Verfahren einstellen. Ein subjektives Recht auf gerichtliche Beweisaufnahme hätten Beschuldigte laut Justizministerin demnach nicht.

Blümel wird auch von Suppan vertreten, der dürfte aber nur bei Kurz auf die gerichtliche Beweisaufnahme gedrängt haben: Er erhob gegen die geplante Beschuldigteneinvernahme Einspruch wegen Rechtsverletzung. Da die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) zunächst keinen Antrag auf gerichtliche Einvernahme stellte, habe sie die Strafprozessordnung verletzt. Wäre die WKStA dem Einspruch nicht nachgekommen, hätte letztlich das Landesgericht Wien darüber entscheiden müssen. Dem ist das Justizministerium mit seiner Weisung nun zuvorgekommen.

Unklar bleibt, ob auch Vertreter der WKStA bei der Einvernahme dabei sein werden. Laut Straflandesgericht werde dies der zuständige Richter entscheiden. Ein explizites Fragerecht der Staatsanwaltschaft ist im Gesetz zumindest nicht vorgesehen, erklärte Robert Kert, Professor für Strafrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien, im STANDARD-Gespräch. Unter Umständen könnte es aber aus anderen Bestimmungen abgeleitet werden.

Totes Recht?

In der juristischen Literatur wurde der nun angewandte Paragraf mitunter als "tot" bezeichnet – also für die Praxis unbedeutend. Dabei ist er noch gar nicht so alt: Die Bestimmung wurde im Rahmen der großen Reform der Strafprozessordnung im Jahr 2008 eingeführt. Damals wurde das ursprüngliche System der Untersuchungsrichter, wonach das Ermittlungsverfahren zum großen Teil durch Richter geführt wird, durch das Staatsanwaltsmodell ersetzt.

Seither liegt die Verfahrensleitung grundsätzlich in den Händen von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten – mit wenigen Ausnahmen: So sollten etwa für Straftaten mit "besonderem öffentlichen Interesse" weiterhin die Richterinnen und Richter für Beweisaufnahmen zuständig sein. Ziel der Sonderbestimmung war es – so geht es aus den Gesetzesmaterialien hervor –, den Anschein der Befangenheit der Staatsanwaltschaft zu verhindern. Diese ist nämlich an Weisungen von übergeordneten Verwaltungsorganen gebunden.

Umstrittener Paragraf

Die Ausnahme für öffentlichkeitswirksame Verfahren war im ursprünglichen Reformentwurf des Justizministeriums nicht vorgesehen, sondern wurde erst im Zuge der Ausschussberatungen ergänzt. Dort waren die Meinung gespalten, Kritiker fürchteten eine Zweiklassenjustiz.

In der Bestimmung komme ein "Misstrauen" gegenüber den Staatsanwälten zum Ausdruck, erklärte etwa Staatsanwalt Wolfgang Swoboda. Die gewünschte Vertrauensbildung in der Bevölkerung werde damit untergraben. Auch Universitätsprofessor Frank Höpfel kritisierte einen "Beigeschmack des Misstrauens gegenüber dem Staatsanwalt". Der ehemalige Generalprokurator beim Obersten Gerichtshof, Otto Müller, gab zu bedenken, dass das Vorhaben dem "Gebot der Gleichbehandlung aller Verdächtigen" widerspreche und die "autonome Entscheidungsbefugnis" der Staatsanwälte einschränke.

Bei der WKStA soll man nun in Sorge sein, künftig viele Einvernahmen auslagern zu müssen. Wie klug das Drängen Suppans war, ist unter Rechtsanwälten jedenfalls umstritten: Andere Anwälte hätten es bei ihren eigenen Mandanten auf keinen Fall verlangt, sagen sie hinter vorgehaltener Hand. (Fabian Schmid, Jakob Pflügl, 28.7.2021)