Wenn Blinde wieder sehen, Gelähmte gehen und ihre Finger wieder zu spüren beginnen, würden viele in Österreich wohl immer noch Jesus Christus oder dessen Vater hinter den "Wundern" vermuten. Wenig überraschend haben Menschen weltweit diese Errungenschaften tatsächlich den Fortschritten in der Neurowissenschaft zu verdanken. Ein paar Sonden hier, ein Elektroimpuls dort, und schon machen menschliche Körper wieder Dinge, die für immer verloren geglaubt waren.

Der Austausch des Wissens lässt das menschliche Gehirn dabei von Jahr zu Jahr besser darin werden, sich selbst zu verstehen, und so werden nicht nur Dinge möglich, über die der eine oder andere Apostel vor rund 2000 Jahren womöglich noch geflunkert hat. Plötzlich rutschen auch Experimente in den Bereich des Möglichen, die die Wissenschaftscommunity gleichermaßen frohlocken und erschaudern lassen.

Sorge vor dem Fortschritt

Der Neurobiologe Rafel Yuste von der Columbia-Universität spritzte Mäusen ein Virus, das zwei Gene in die Neuronen der Tiere einschleuste. Eines davon sollte sie ein Eiweiß produzieren lassen, das sensibel auf Infrarotstrahlung reagiert. Das zweite Gen ließ bestimmte Neuronen leuchten, sobald sie aktiv waren, was wichtig für die Beobachtung des Experiments war. Yuste trainierte die Mäuse darauf, immer dann etwas Zuckerwasser zu trinken, wenn sie rote Balken auf einem kleinen Bildschirm sahen.

Er erkannte, welche Neuronen im Mäusehirn ansprangen und stimulierte später eben diese Neuronen mit Infrarotlicht. Die Mäuse – scheinbar im Glauben, tatsächlich rote Balken zu sehen – tranken wieder vom Zuckerwasser, ohne dass der tatsächliche rote Balken angezeigt wurde. Yuste erging es wie zahlreichen großen Wissenschaftern in der Geschichte vor ihm.

Er hatte wahnsinnigen Respekt und Sorge vor den Auswirkungen seiner Entdeckung. "Wir haben diese Mäuse wie Puppen manipuliert", sagte er und legte nahe, dass dies eines Tages auch mit Menschen möglich sein könnte. Yuste schwang sich in den folgenden Jahren zu einem der bekanntesten Verfechter sogenannter Neurorechte auf, gründete die Neurorights-Initiative und forderte 2017 gemeinsam mit 24 anderen Neurowissenschaftern eine Menschenrechtserklärung, die sich den speziellen Schutz vor Gedankenlesetechniken sowie der Implantation neuer Gedanken auf die Fahnen schreibt.

Unvorbereitet

Denn was in die eine Richtung funktioniert, klappt meist auch in die andere. Kurz gesagt: Die Menschheit soll dieses Mal ausnahmsweise rechtzeitig dran sein, potenziell sehr gefährliche Entwicklungen noch vor deren Erfindung zu reglementieren. Menschen ähnlich wie den Mäusen Dinge sehen zu lassen, die gar nicht real sind, sei zwar alleine schon wegen des dickeren Schädels, der komplexeren Struktur aus mehr als 100 Milliarden Neuronen und bestehender rechtlicher Hindernisse zur Genmanipulation noch sehr weit entfernt vom Menschenmöglichen.

Müssen wir auf unsere Gedanken künftig noch besser aufpassen?
Foto: DER STANDARD / Eva Schuster

Dennoch käme die Technik des Gedankenlesens und auch Brainwriting – das Injizieren bestimmter Gedanken ins Hirn – immer schneller auf uns zu. Wir seien als Gesellschaft schlichtweg nicht darauf vorbereitet, warnt Yuste. So konnten Forscher der Universität Kalifornien kürzlich allein durch das Beobachten von Neuronen mit einer Trefferquote von 97 Prozent nachvollziehen, welche Worte ein Mensch aus einem 250 Wörter großen Textpool auswählte und sprach.

Große Chancen und ethische Zwickmühlen

Es sind äußerst heikle Fragen, vor denen die Menschheit hier steht. Potenziell positive Aspekte neurochirurgischer Eingriffe oder von Neurostimulation mittels elektromagnetischer Impulse sind vielfältig – gleichzeitig aber oft von ethischen Zwickmühlen begleitet. So könnten etwa Menschen mit Locked-in-Syndrom, denen jegliche Kommunikation mit der Außenwelt unmöglich ist, durchaus wieder mit ihren Mitmenschen sprechen. Wie aber will man vorab das Einverständnis einer Person für solch invasive Eingriffe einholen?

Die inhärenten Reize und Zwänge drogen-, alkoholabhängiger oder fettleibiger Menschen könnten per neuronale Stimulation quasi "abgeschaltet" oder gelindert werden. Wer aber entscheidet, welche Verlangen oder Neigungen den Menschen ausgetrieben werden sollten und welche nicht. Wer soll sagen, wie ein erstrebenswertes oder gar lasterfreies Leben aussieht? Was ist mit der Lust auf zuckerhaltige Schokolade oder Zigaretten? Wollen rückständige und homophobe Staaten dann auch wieder Homosexualität therapieren?

Nichts als die Wahrheit

Auch vor Gericht gäbe es zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für die Gedankenleser der Zukunft. Technologien, die den Blick in den Kopf von Straftätern ermöglichen, könnten etwa dazu verwendet werden, die Schuld von Verdächtigen zu beweisen oder gar Straftaten im Vorfeld zu verhindern. Bestimmte Veranlagungen oder Neigungen könnten überprüft werden – etwa Aggressionspotenzial oder Pädophilie.

Die europäische Menschenrechtskonvention garantiert dabei, dass sich kein Mensch selbst belasten muss. Angeklagte dürfen vor Gericht die Unwahrheit sagen. Verfahren wie Hypnose, Narkoanalyse oder Lügendetektoren, die unwillkürliche Äußerungen eines Beschuldigten hervorrufen sollen, sind in Österreich selbst dann verboten, wenn Betroffene zustimmen. Dennoch wird ihr Einsatz zunehmend diskutiert. Seit Jahren lobbyieren Sicherheitsfirmen etwa für den Einsatz KI-gestützter "Täuschungserkenner" an den EU-Außengrenzen.

Auf der anderen Seite könnten sich Menschen in posttraumatischer Behandlung eines Tages böse Träume und schlechte Erinnerungen streichen und dies durch positive ersetzen lassen. Träume könnten mit Psychoanalytikern diskutiert werden, um passende Therapien zu finden. Schon heute analysieren Algorithmen handschriftlich geführte Traumtagebücher und erkennen so Abweichungen von der Norm, die besprochen werden sollten.

Was wollen die Tech-Giganten?

Wem aber gehören die Rechte meiner besonders spektakulären Träume, wenn diese vielleicht gar zu Vorlagen für Romane oder Blockbuster werden? Oder noch prekärer: Was, wenn wir eines Tages nicht mehr genau wissen, woher die Gedanken, die in unseren Köpfen kreisen, wirklich kommen? Parkinson-Patienten mit Gehirnimplantaten berichteten bereits, sich mitunter aggressiver und künstlicher zu fühlen.

Ein Affe steuert mit Gedankenkraft ein Computerspiel. Ein Gehirnimplantat macht es möglich.
Neuralink

Yuste und seine Mitstreiter bereitet vor allem eine Entwicklung Kopfzerbrechen: Warum genau mischen neuerdings mit Elon Musks Neuralink, Facebook und Google ausgerechnet die großen Tech-Giganten samt ihren streitbaren Firmenchefs in diesem Neurotechnologierennen mit? Freilich ist unbestritten, dass die diversen Ansätze zur schnelleren und nahtlosen Kommunikation zwischen Gehirnen und Computern, sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCI), offensichtliche Vorteile für die Tech-Industrie brächten.

Wenn ich die Hauptstadt Paraguays nicht mehr googeln muss, sondern mir die Antwort beim Nachdenken wie aus heiterem Himmel einfällt, beschleunigt es die Leistungsgesellschaft zusätzlich. Aber angenommen, Sie spazieren auf der Straße und verspüren auf einmal Lust auf Vanilleeis. Wie lange könnten Sie sich im Falle leistungsstarker BCIs sicher sein, dass es tatsächlich noch Ihre eigenen Gelüste sind und nicht die Werbemasche der Gelateria ums Eck dahintersteckt, die ihre neueste Sorte auf Google promotet?

Elon Musk stellt neben seinem Operationsroboter seine Vision von Neuralink vor.
Foto: AFP PHOTO / NEURALINK

Gehirndoping für die Reichen

Ein weiterer Punkt, der den Gedankenrechtlern Sorgen bereitet, ist die Exklusivität der Neurotechnologie. So könnten sich Menschen Aufmerksamkeitsdefizite oder Konzentrationsschwächen "weglasern" lassen und gleichzeitig Hirne zu superaufnahmefähigen Hochleistungsmaschinen aufmotzen. Was nicht nur die Militärs dieser Welt, sondern auch Kinder privilegierter Eltern oder reiche Unternehmerinnen interessieren könnte, droht die Kluft zwischen der reichen, gehirndopenden und einkommensschwachen Bevölkerung ein weiteres Mal eklatant zu vergrößern, warnen Experten.

"Trotz signifikanter Limitationen beim Gedankenlesen sollten wir über den aktuellen Horizont hinausblicken und Regeln überdenken." Sjors Ligthart

Überbordender Alarmismus oder berechtigte Warnung? Was ist es, das Yuste und seine Mitstreiter propagieren? Wenig überraschend nehmen auf staatlicher Ebene aktuell ausgerechnet jene Staaten eine Vorreiterrolle in der Reglementierung der Technologie ein, die in ihrer Geschichte ihre eigene Form der Gehirnwäsche unter rechten Militärdiktaturen erleben mussten. So will etwa Chile, das zwischen 1973 und 1990 diktatorisch regiert wurde, ein explizites Recht auf "mentale Privatsphäre" in der Verfassung verankern. Auch Spanien zählt zu den Vorreitern.

Aber braucht es in Europa eine neue Rechtslage, erweiterte Grundrechte? Oder reichen die bestehenden Instrumente aus? Sjors Ligthart, Strafrechtler an der Universität Tilburg in den Niederlanden, kommt zu einem differenzierten Ergebnis: Ein Recht auf "mentale Privatsphäre" könne auch aus den bestehenden Rechten auf Gedankenfreiheit und Privatsphäre abgeleitet werden. Ligthart sieht dennoch Handlungsbedarf: Denn nur wenige Grundrechte bieten absoluten Schutz.

Gedanken als Organe

Ins Recht auf Privatsphäre kann etwa eingegriffen werden, wenn wichtige Gründe vorliegen oder die betroffene Person zustimmt. Wann Einschnitte gerechtfertigt sind, entscheiden also Gesetzgeber und Gerichte. Auch wenn Europa prinzipiell einen ausgeprägten Grundrechtsschutz bietet, der flexibel genug ist, sich neuen Technologien anzupassen, so muss der Schutzbereich immer wieder neu abgesteckt und ausverhandelt werden. Es gilt, frühzeitig klare Grenzen zu ziehen.

In Teilen geht der chilenische Vorstoß jedenfalls über den europäischen Schutzstandard hinaus: Neben dem Recht auf freien Willen soll auch ein Recht auf gleichen Zugang zu Formen des Gehirndopings verankert werden. Besonders spannend: Neuronale Daten, also quasi auch Gedanken, sollen als organisches Gewebe behandelt werden. Das würde bedeuten, dass jeglicher Handel – egal ob freiwillig oder nicht – verboten würde, wie es bei Herz, Leber und Lunge nun mal auch der Fall ist. Nur wer sich freiwillig dazu bereiterklärt, darf seine Daten für altruistische, aber keine kommerzielle Zwecke hergeben.

Die Verstrickungen, die diese Technologie mit sich bringt, sind mindestens so komplex, wie die damit einhergehenden Unsicherheiten groß sind. Dennoch, warnt Ligthart, "sollten wir über unseren aktuellen Horizont hinausblicken", wenn wir die Entwicklungen antizipieren wollen und die heiklen ethischen und rechtlichen Fragen auch nur ansatzweise rechtzeitig debattieren wollen.

Noch bleibt dafür ein wenig Zeit. (Fabian Sommavilla und Jakob Pflügl, 1.8.2021)