Justizministerin Alma Zadić fordert von ÖVP und Opposition ein Ende der "ständigen Politisierung der Debatte, aber auch der Staatsanwaltschaft".

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Besonderes öffentliches Interesse kann man dem Fall nicht absprechen: Die Frage, ob Kanzler Sebastian Kurz unter Wahrheitspflicht das Parlament falsch informiert hat, ist für die Republik von großer Bedeutung. Schon eine Anklage hieße, dass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass Kurz wahrscheinlich das Parlament getäuscht hat. Eine Einstellung würde wiederum jenen Futter geben, die seit Monaten eine Hexenjagd gegen die ÖVP-Spitze anhand vager Verdachtsmomente vermuten.

Die "Bedeutung der aufzuklärenden Straftat und die Person des Tatverdächtigen" sind also mehr als prominent – und somit war eigentlich klar, dass in der Causa Kurz der Paragraf 101 der Strafprozessordnung erfüllt ist. Dessen zweiter Absatz sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft bei großem öffentlichen Interesse an Tat und Verdächtigem gerichtliche Beweisaufnahmen zu beantragen hat.

Das Problem dabei: De facto kam diese Bestimmung bislang nie bei einem Politiker zur Anwendung. Von einem Richter einvernommen wurden Justizbeamte, zuletzt der suspendierte Sektionschef Christian Pilnacek. Das war einleuchtend: Staatsanwälte sollten nicht in die Lage gebracht werden, ihre Vorgesetzten einzuvernehmen, um Interessenskonflikte zu vermeiden.

1. Die Rechtslage

Bei Politikerinnen und Politikern sah man bislang hingegen keinen Grund, den Paragrafen tatsächlich anzuwenden. Das wäre auch dieses Mal so gewesen, hätte ÖVP-Anwalt Werner Suppan in der Causa Kurz nicht um eine gerichtliche Beweisaufnahme gekämpft. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) lud den Kanzler zur Einvernahme, Suppan legte mit Verweis auf Paragraf 101 Einspruch ein. Die WKStA blieb dabei, selbst einvernehmen zu wollen, wurde jedoch von Oberstaatsanwaltschaft (OStA) Wien und Justizministerium überstimmt.

Rechtlich wird somit, wie schon so oft in den Novomatic-Ermittlungen, Neuland betreten. Die große Frage, die sich nach dieser Woche stellt, ist: warum eigentlich? Wenn die Rechtsansicht des Justizministeriums so eindeutig ist – und fast alle befragten Expertinnen und Experten sie nachvollziehen können –, warum kam man dann in anderen Fällen zu anderen Ergebnissen? Man nehme den Fall des Finanzministers Gernot Blümel (ÖVP), der ebenfalls von Anwalt Suppan vertreten wird. Blümel war zum Zeitpunkt seiner Einvernahme Finanzminister. Die WKStA wirft ihm vor, ein unmoralisches Angebot des damaligen Novomatic-Chefs Harald Neumann an den damaligen Außenminister Sebastian Kurz herangetragen zu haben.

Die Causa Blümel sorgte für massives "öffentliches Interesse", Blümel selbst war zum Zeitpunkt der Einvernahme Finanzminister; der Tatvorwurf der Bestechung ist ein schwerwiegender, gerade mit Blick auf Blümels aktuelle Position – und trotzdem kam Paragraf 101 nicht zur Anwendung. Die türkise Justizsprecherin Michaela Steinacker fragte bei Justizministerin Alma Zadić (Grüne) nach, warum dem so war. Die Antwort: "Die Staatsanwaltschaft ist nicht in jedem Fall von besonderem öffentlichen Interesse angehalten, einen Antrag auf gerichtliche Beweisaufnahme zu stellen." Mit Blick auf das Beschleunigungsgebot – also möglichst schnelle Ermittlungen – habe sie das im Fall Blümel nicht für geboten gehalten. Ähnliches gilt wohl für den Fall des Ex-Vizekanzlers Heinz-Christian Strache; oder für Casinos-Austria-Chefin Bettina Glatz-Kremsner. Konkret wollte das Justizministerium dazu keine Antwort geben.

2. Die politische Komponente

Der damalige Justizminister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) wollte bei der großen Justizreform 2004 eigentlich komplett auf richterliche Einvernahmen während der Ermittlungen verzichten. Das Justizpaket sah das Ende der Untersuchungsrichter vor, die Ermittlungen lagen nun in den Händen der Staatsanwaltschaft. Der Justizausschuss des Nationalrats fügte allerdings den umstrittenen Paragrafen 101 in die Regierungsvorlage ein. Berichterstatter war damals ein junger Abgeordneter namens August Wöginger, heute ÖVP-Klubobmann.

Schon damals regte sich Widerstand aus der Opposition: Es sei inkonsequent, "dass nunmehr unter anderem aufgrund des Druckes der FPÖ-Justizsprecherin und ehemaligen Untersuchungsrichterin Dr. Helene Partik-Pablé von diesem Grundsatz in unsachlicher Weise abgegangen wird". Was war das Motiv der schwarz-blauen Abgeordneten? "Damit will der Justizausschuss auf die immer wieder betonte ‚Anscheinsproblematik‘ eingehen, wonach eigenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen deren organisationsrechtlichen Stellung nicht dasselbe Maß an Vertrauen entgegengebracht werde wie dem unabhängigen Gericht", hieß es in Wögingers Ausschussbericht.

Es geht also klar darum, dass Staatsanwaltschaften aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Weisungsspitze "misstraut" werden könnte. Wobei die "Erfinder" des Paragrafen in ihrer Fantasie wohl nicht daran dachten, dass ein Kanzler dem vom Koalitionspartner geführten Justizministerium misstraut.

Die ÖVP stürzte sich jedenfalls auf die von Zadić unterschriebene Weisung, um der WKStA einmal mehr Voreingenommenheit vorzuwerfen. Das war dann auch der Ministerin zuviel: Sie rügte öffentlich ÖVP, aber auch die Opposition; weil beide die Justiz "politisierten". Die Ministerin soll zwar im Groben über die Ansichten von WKStA, OStA und Sektion informiert gewesen sein, jedoch eine Einmischung vermieden haben. Politisch hätte sie nicht punkten können: Eine Weisung entgegen der Rechtsansicht von OStA, Sektion und Weisungsrat hätte ihr den Vorwurf parteiischer Interventionen eingebracht.

3. Die Konsequenzen

Die WKStA befürchtet nun, dass immer mehr prominente Beschuldigte auf eine Einvernahme vor Gericht bestehen. Fraglich ist, ob Richter die nötigen Ressourcen haben, sich für eine einzige Einvernahme in einen riesigen Akt einzulesen. Beim Vorwurf der Falschaussage wie bei Kurz ist das ein geringeres Problem; im Novomatic-Hauptakt oder in der Causa Eurofighter wäre das fast unmöglich. So gut wie der zuständige Staatsanwalt kennt der Richter den Fall wohl kaum; unklar ist derzeit, ob die WKStA bei der Einvernahme selbst Fragen stellen darf.

Kurz verschafft sich mit der richterlichen Beweisaufnahme jedenfalls Zeit. Sie wird das Verfahren wohl um einige Wochen verzögern. Allerdings wird es für den Kanzler schwieriger, sich im Falle einer Anklage auf eine befangene Staatsanwaltschaft hinauszureden. Vielleicht ein Grund, warum die meisten Anwälte nicht auf eine richterliche Einvernahme ihrer Mandanten bestehen. Die ÖVP und Kurz gehen politisch auf Konfrontation zur WKStA; andere Beteiligte sind um ein möglichst korrektes Verhältnis bemüht. So hörte man etwa von dem von der WKStA angeklagten Strache kein schlechtes Wort über die Behörde; auch Gernot Blümel attestierte ihr "professionelle Arbeit". Warum Kurz’ und Blümels Anwalt Suppan in beiden Fällen so unterschiedliche Strategien fährt, wollte er nicht beantworten. Kurz’ Weg ist jedenfalls ein riskanter. (Fabian Schmid, Jakob Pflügl, 31.7.2021)