Als "freier Mann" präsentierte sich Saif al-Islam al-Gaddafi nun Medien. 2014 saß er im Käfig vor Gericht.

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Der im Oktober 2020 geschlossene Waffenstillstand zwischen Ost und West hält im Großen und Ganzen, und Freitag war insofern ein guter Tag für Libyen, als die von den früheren Kriegsparteien beschickte Gemeinsame Militärkommission die Küstenstraße zwischen Tripolis und Bengasi wieder für den Verkehr freigab: 1026 Kilometer ist die direkte Strecke lang, um 700 Kilometer oder zehn Stunden kürzer als der Umweg im Landesinneren. Die Öffnung war immer wieder verschoben worden. Mit ihr kehrt ein Stück Normalität zurück.

Auch aus Rom, wo ein Ausschuss des libyschen Abgeordnetenhauses gemeinsam mit der Wahlkommission und der Uno-Mission in Libyen daran arbeitete, kam die gute Nachricht, dass das Wahlgesetz für die geplanten Präsidentenwahlen und Parlamentswahlen am 24. Dezember dieses Jahres fertig sei. Ob nun wirklich am 2. August bereits darüber abgestimmt werden kann oder ob vorher noch der Präsidentschaftsrat zustimmen muss, darüber gibt es allerdings schon wieder Streit.

Noch immer sind Befürchtungen real, dass der politische Prozess unter Führung der Uno, der im April zur Bildung einer vorläufigen Einheitsregierung geführt hat, zusammenbricht und der Krieg zurückkehrt.

In der "New York Times" meldete sich am Freitag indes zeitgleich ein potenzieller Kandidat für die erste direkte Präsidentenwahl in Libyen zu Wort: Das erste Interview mit Saif al-Islam al-Gaddafi seit dem Sturz des Regimes wurde allerdings schon im Mai geführt. Der 49-Jährige ist der zweitälteste Sohn des im Oktober 2011 von Rebellen getöteten libyschen Langzeitherrschers Muammar al-Gaddafi. Er studierte in Wien und in London und galt vor Ausbruch der Rebellion vielen als Hoffnungsträger für demokratische Reformen in Libyen.

Die Rede von Februar 2011

Dieses Image zerschlug sich schnell, als er am 20. Februar 2011 in einer TV-Rede die kurz zuvor in Bengasi ausgebrochenen Proteste als eine Aktion von Kriminellen und Drogensüchtigen bezeichnete und ankündigte, dass sich die Flüsse Libyens mit Blut füllen würden. Er meinte nicht den späteren Bürgerkrieg, der dieses Bild Realität werden lassen sollte, sondern was das Regime mit den Aufständischen machen würde – und tatsächlich tat. Die steigenden Opferzahlen waren ein Kriterium für das Eingreifen der Nato im März 2011. Das Mandat galt nur für den Schutz der Bevölkerung – wurde jedoch für die Rebellen kriegsentscheidend.

Bereits im Juni 2011 stellte der Internationale Strafgerichtshof (ICC) einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen Saif al -Islam al-Gaddafi aus. Er wurde im Oktober 2011 von Rebellen der nordwestlichen Stadt Zintan gefasst und dort unter anfangs brutalen Haftbedingungen gehalten. Ein paar Jahre später schon wusste man nicht mehr so recht, ob er gefangen oder eher freiwillig versteckt lebte. Ab 2014 musste er sich, in einem Käfig in Zintan sitzend, per Video einem Prozess in Tripolis stellen, bei dem er 2015 zu Tode verurteilt wurde.

Der "NYT"-Journalist Robert F. Worth besuchte Gaddafi in einer "opulenten" Villa in den Nafusa-Bergen nahe Zintan, ganz Gaddafi-Style, auch sein theatralisches Auftreten. Ein, wie er sagt, freier Mann, der sein Comeback plant, sich allerdings nicht gerne fotografieren lässt, denn das libysche Volk müsse sich erst wieder an ihn gewöhnen, "langsam, wie bei einem Striptease". Das findet er lustig.

Seine Meinung über die Rebellen des Jahrs 2011 hat er nicht geändert, seine Einstellung zur Herrschaft seines Vaters scheint unkritischer zu sein als in jener Zeit, als er als gerngesehener Gast in westlichen Salons – etwa als Freund Jörg Haiders – das Wort Demokratie im Mund führte. Sogar das skurrile "Grüne Buch" Gaddafis verteidigt er, und sein politisches Comeback-Vehikel soll die "Grüne Bewegung" sein, die von Ägypten aus einen TV-Sender betreibt, der ganz ungeniert das alte Regime bewirbt.

Der Gaddafi-Sohn will nach eigenen Worten den Staat wiederherstellen, der sich seit 2011 aufgelöst hat. Dass es sein Vater war, der ganz bewusst Institutionen zerschlagen hat und das ganze Gefüge nur mit Gewalt zusammenhielt: Dieser Gedanke scheint ihm fremd zu sein.

Verblasste Erinnerungen

Es ist gar keine Frage, dass ein Präsidentschaftskandidat Saif al-Islam al-Gaddafi – oder auf welchem Weg immer er in die Politik gehen will – in großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen wird. Seine Kandidatur würde Libyen nicht einen, sondern weiter auseinander dividieren. Das Schlimme ist jedoch, dass während des letzten Jahrzehnts viele Erinnerungen verblasst sind und bei gar nicht so wenigen Menschen tatsächlich eine Art Gaddafi-Nostalgie eingekehrt ist, bei alten Regime-Loyalisten ohnehin, aber auch bei Leuten, denen es vor 2011 ganz einfach besser ging, die in einem ruhigen, relativ sicheren, wenngleich unfreien Land lebten, in dem verfügbar war – Strom, Wasser –, was jetzt Mangelware ist.

Auch die schon erwähnte Rede von 2011 wird von manchen heute eher als hellsichtige "Prophezeiung" zur Zukunft Libyens gesehen – übrigens auch durchaus von Leuten im Westen, die schon damals Saif al-Islams zwei weiße Tiger, die er nach Wien mitbrachte, oder die 22-jährige Ukrainerin, die vom Balkon seiner Wiener Villa fiel, als amüsante Extravaganzen betrachteten.

Seine Zeit in Österreich kommt auch im "NYT"-Artikel vor: Als die österreichischen Behörden, denen es der Bursche vielleicht doch zu bunt trieb, Schwierigkeiten beim Verlängern seines Aufenthaltstitels machten, habe "die libysche Regierung diese Beleidigung gegen mich glücklicherweise sehr ernst genommen" und angedroht, Österreichern keine Visa mehr für Libyen auszustellen: "Die österreichische Regierung hat ihre Meinung sehr schnell geändert." Die OMV arbeitet seit 1975 in Libyen. Aber auch die Schweiz fiel in einer ähnlichen Situation einmal sehr schnell um, und auch darauf ist der potenzielle Anwärter aufs höchste Amt in Libyen im "NYT"-Interview stolz. (Gudrun Harrer, 1.8.2021)