Länger leben und mehr erleben

Fabian Sommavilla

40 ist das neue 30 und 70 das neue 60. Seit einigen Jahrzehnten verschiebt sich etwas. Generation um Generation ist fitter als die vorherige – moderner Medizin und geänderten Arbeitsbedingungen sei Dank. Die Lebenserwartung stieg in den letzten Jahrhunderten so stark, dass es wohl schon im 22. Jahrhundert möglich scheint, 150 Jahre alt zu werden.

Wen das abschreckt, der ignoriert den Fortschritt. Im 17. Jahrhundert wäre es für die meisten wohl auch eine grausame Vorstellung gewesen, 90 Jahre alt zu werden. Heute reisen 90-Jährige noch durch die Weltgeschichte und 82-Jährige in den Weltraum.

Wer argumentiert, dass dies nur das Ressourcenproblem auf der Erde verschärfe, weil immer länger lebende Menschen noch mehr konsumieren, denkt ebenso rein kurzfristig (und egoistisch). Das Ressourcen- und Klimaproblem muss unabhängig von der Lebenserwartung der Menschen gelöst werden. Denn wenn 50 Grad während der Sommer in Bagdad normal werden, schmerzen 30 Jahre auf Erden ebenso wie 120. Daran kann und will sich niemand gewöhnen.

Und man stelle sich doch einfach einmal vor, dass emissionsfreies Reisen bis in 100 Jahren erfunden ist: Wäre es da nicht wunderbar, mehr Zeit zu haben, um die vielen wunderbaren Flecken dieser Erde zu bereisen? Wäre es nicht erstrebenswert, dass möglichst viele Menschen aus allen Regionen der Welt diese Chance hätten? Wäre es nicht schön, seine Enkel und Urenkel länger und womöglich in einem fitteren Zustand erleben und groß werden zu sehen? Und wäre es nicht zuletzt immens wichtig für den menschlichen Fortschritt, dass die klügsten Köpfe noch länger Zeit haben, um ihre Ideen umzusetzen?

Dass wir tatsächlich jegliche Krankheiten komplett ausschalten können und nur noch durch Unfälle, Mord oder Suizid sterben, wie es manch schriller Altersforscher behauptet, liegt weit außerhalb des Bereichs des Menschenmöglichen. Sofern wir es aber schaffen, möglichst vielen Mitmenschen ein gesundes Miteinander zu ermöglichen, muss es im Interesse eines jeden Menschen sein, seine Zeit auf Erden zu maximieren. Vor allem wenn sich der 110. Geburtstag vielleicht schon bald wie der heutige 70er anfühlt. Es ist zumindest für jene erstrebenswert, die nicht glauben, dass Gott noch weitere Chancen für sie bereithält.

Sterben gibt dem Leben einen Sinn

Philip Pramer

Ich lebe und habe kein Leben. Ich werde niemals sterben und habe doch keine Zukunft", resümiert Fosca, Jahrhunderte nachdem er durch einen Trank unsterblich wurde, seine Situation. Von einem solchen Unsterblichkeitstrank wie in Simone de Beauvoirs Roman "Alle Menschen" sind sterblich sind wir in der Realität zwar noch weit entfernt. Trotzdem rufen umstrittene Altersforscher bereits den Anfang vom Ende des menschlichen Sterbens aus.

Dabei ist Sterben, so schlimm es in jeder Einzelsituation auch sein mag, das, was das Leben erst ausmacht. Die Tatsache, dass es irgendwann zu Ende sein wird, gibt ihm erst seinen Sinn. "Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter" mag zwar ein abgenutzter Kalenderspruch sein, aber in ihm steckt auch ein Funken Wahrheit.

Unsere Persönlichkeit macht auch aus, dass wir lebensverändernde Entscheidungen zu treffen haben – nämlich solche, die so groß sind, dass sie in einem einzigen Leben nur einmal Platz haben. Es sind diese Weggabelungen, die jeden Einzelnen von uns prägen und unterscheiden. In der Unendlichkeit hätten sie keine Relevanz.

Ein Leben ohne Ende hingegen wäre eines unter stetiger Aufschieberitis. Wer würde noch diese große Weltreise machen? Welche Künstlerin würde noch ihr Lebenswerk vollenden? Wer würde noch endlich seinen Keller aufräumen? Dass sich die Menschheit weiterentwickelt, ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass sie immer aus anderen Leuten besteht. Es ist diese Mischung aus erfahrenen Generationen und einer jungen Gegenbewegung – einer Generation X, Y, Z, die im Gegenspiel mit den Älteren für Reibung und Innovation sorgt.

Dazu ist Sterben etwas Egalitäres – es trifft jeden. Vertreter der Unsterblichkeitsbewegung beteuern zwar, dass es die Unsterblichkeit, einmal erforscht, für jeden geben wird. Wer jedoch weiß, wie ungleich Entwicklung verteilt ist, sieht schon die Autokraten vor sich, die Generationen ihres Fußvolks überleben, und Jeff Bezos auf seinem Flug zur nächsten Galaxie.

Statt Unsterblichkeit sollten wir lieber das Ziel verfolgen, dass niemand mehr mit 20, 30 oder auch 60 sterben muss. Eine Welt, in der alle ihre Leben und vor allem ihren Ruhestand voll auskosten können – und dann Platz machen für die nächste Generation, die ganz anders ist als die vorige. Es wäre ein Tod, den niemand mehr fürchten, aber jeder achten muss.