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"Nuevo orden" zeigt die Dramatik in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe zwischen Verschleppung und Suche nach den "desaparecidos", den Verschwundenen.

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Ein beherztes "Viva la revolución!" würde dem mexikanischen Regisseur Michel Franco wohl kaum je über die Lippen kommen. Zu fatalistisch und pessimistisch sieht er die Welt. Die Ursachen dafür liegen wohl in der Geschichte Lateinamerikas, den verunglückten Revolutionen und den Militärdiktaturen, die zwischen 1970 und 1990 die Politik des Kontinents heftig geprägt haben.

Zu den zahlreichen Verbrechen dieser – mitunter von westlichen Regierungen und deren Politik gestützten – Militärjuntas zählten das Verschleppen, das Foltern und das Töten von Menschen, die man "desaparecidos" (die Verschwundenen) nennt, deren Verbleib bis zum heutigen Tag oftmals ungeklärt ist.

Wie jede Revolution nimmt Nuevo orden seinen Ausgang in einem deutlichen Klassenkonflikt. Zu Beginn des Films sehen wir Giftgrün, die Farbe der Protestbewegung, die gegen eine korrupte Regierung auf die Straße geht, deren konkrete Anliegen aber durch die schnell montierten Fernsehbildaufnahmen auf Distanz bleiben. Grüne Farbkleckse finden wir dann auch auf den Kleidern der illustren Hochzeitsgäste von Marianne (Naián González Norvind) und Alan (Darío Yazbek Bernal), einem Pärchen aus den sogenannten "besten" Familien.

Entract Films

Gefeiert wird in einem Reichenviertel in der elterlichen Villa, die anstelle eines Eingangs eine Auffahrt für die teuren SUVs der Gäste im Angebot hat. Ungebeten trifft dort allerdings plötzlich ein ehemaliger Bediensteter ein, der die feiernde Familie um Geld für die Herzoperation seiner Frau bittet. Die Familie verwechselt allerdings das Bittgesuch mit Bettelei und zeigt sich kleinlich.

In Mexiko, so der Regisseur, lässt sich die Klasse an der Hautfarbe ablesen. Anders als die europäisch aussehenden Wohlhabenden haben die Angestellten, die Chauffeure und auch der Bittsucher mexikanische Züge und eine dunklere Haut. Genau wie die Demonstranten, die plötzlich über die hohe Gartenmauer des Anwesens klettern. In ihrer Zerstörungswut zerfetzen sie alles, was nach Geld aussieht: egal ob Kunst, Einreichungsgegenstand oder Mensch.

Rechnung bezahlen

Die Hausangestellten nutzen also die Unruhe, um sich zu bereichern. Von alledem bekommt Marianne nichts mit: Sie ist mit Cristian (Fernando Cuautle), dem Sohn der Haushälterin, zu dem Bittsucher gefahren, um seiner Frau die Krankenhausrechnung zu bezahlen.

Die kapitalistische Parzellierung in besitzende Klasse da und dienende Klasse dort gerät hier für einen Moment tatsächlich durcheinander. Doch so schnell kann man gar nicht schauen, ist der Aufstand schon wieder niedergeschlagen – und das Militär patrouilliert fortan nachts durch die Straßen.

Die neue Militärordnung ist rabenschwarze Dystopie. Mit dem Versprechen, sie zu ihren Eltern zu bringen, holen ein paar Soldaten Marianne aus der Wohnung der Haushälterin ab. Stattdessen wird sie mit vielen anderen eingesperrt, gefoltert, vergewaltigt und als Geisel gehalten, um Lösegeld zu erpressen. Mariannes Bruder und Verlobter suchen sie vergeblich – bis der Sohn der Haushälterin ihnen weiterhelfen kann.

Geld und Macht

Mithilfe von Beziehungen zu den höchsten Rängen des Militärs scheint das Unrecht aufgeklärt werden zu können – doch Franco ist kein Regisseur, der an Erlösung interessiert ist. Die rohe Grausamkeit, die den Protagonisten entgegenschlägt, kontrastiert New Order mit einer straffen Inszenierung. Darin sind die durchkomponierten, teilweise grässlich schönen Bilder genauso ausweglos wie die Geschichte, die in großem Tempo danach trachtet, das Prinzip Hoffnung, das der Antrieb aller emanzipativen Bewegungen ist (und sein muss), erbarmungslos zu foltern und zu ermorden.

Die Hoffnung ist hier die eigentliche "desaparecida". Statt ihrem Verschwinden nachzugehen und sie zu reklamieren, macht Francos 2020 in Venedig preisgekrönter "coup de cinéma" dem Kinopublikum schmerzlich bewusst, dass sich Geld und Macht immer arrangieren – zum Leidwesen derjenigen, die keines von beidem besitzen. (Valerie Dirk, 11.8.2021)