Bild nicht mehr verfügbar.

Risikofreudig-aggressive Lenker sind eher jung und meist – aber nicht immer – männlich, haben geringe Fahrpraxis und verursachen die meisten Unfälle, sagt die Forschung zur Verkehrssicherheit.

Foto: Getty Images

Noch bevor mir die Dame um die 60 mit ihrem Einkaufswagerl zum zweiten Mal kräftig in die Ferse fährt, schreit sie "Zweite Kassa!". Vor uns stehen zwei weitere Kunden mit kaum gefüllten Wagerln. Nach dem zweiten Kontakt meines Fußes mit dem Fuhrwerk der Dame biegt die Zwidere schon zum anderen Band ab. Die herbeigeeilte Kassiererin bemüht sich um Freundlichkeit. Umsonst. Der Grantigen kommt kein Wort aus.

Egoismus in der Mobilität zeigt sich nicht nur beim Autoverkehr. Für Egoisten kann auch ein schnödes Einkaufswagerl schnell zum Streitwagen werden, der einer selbst gefälligen Person den Raum verschafft, von dem sie meint, dass er ihr – und eigentlich nur ihr – zustehe.

Sticheln und zischeln

Wenige Stunden später in der U-Bahn. Eine junge Frau mit Kopftuch telefoniert – in einer fremden Sprache und relativ laut. Ihr gegenüber sitzt eine Frau, die ständig zischelt und stichelt, weil sie von dem Telefonat sichtlich genervt ist. Sie ist schon aufgefallen, weil sie in die U-Bahn drängelte, noch ehe aussteigen konnte, wer rauswollte. Die Sticheleien gehen weiter. Am Ende steigt die Frau mit dem Kopftuch aus – womöglich ob der spitzen Bemerkungen früher, als sie eigentlich wollte.

Ein paar Minuten später läutet das Telefon der älteren Dame – und sie macht völlig ungeniert genau das, was sie eben bei ihrem Gegenüber gestört hat: laut telefonieren. Da sie das auf Mittelhochhernalserisch macht, dürfte für sie ausreichend Begründung sein, warum es in ihrem Fall niemanden zu stören habe. Unnötig zu erwähnen, dass sie dabei die Maske vom Gesicht genommen hat.

Generve in den Öffis

"Fahrgäste, die keine Maske tragen, bilden die absolute Ausnahme. Der überwiegende Großteil der Fahrgäste hält sich an die Maskenpflicht", heißt es von den Wiener Linien. "Wir haben bei diesem Thema einen großen Fokus auf Information gesetzt – vor Ort am Bahnsteig mit den Anzeigen beziehungsweise Durchsagen." Und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten Fahrgäste auf das Thema angesprochen.

Probleme mit Egoisten kennt man aber bei den Wiener Linien sehr wohl. "Das Thema Rücksichtnahme ist für unsere Fahrgäste und auch für uns ein großes Thema. Grundsätzlich sind es häufig Verhaltensweisen anderer Fahrgäste, die störend sind", heißt es bei den Wiener Linien. Die meisten Beschwerden gebe es wegen lauten Telefonierens, Essens oder wegen Hunden ohne Beißkorb.

Gegensteuern will man nicht mit Strafen, sondern mit Information. "Die störendsten Themen haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder kommunikativ – auch im Rahmen breiter Informationskampagnen – aufgegriffen und angesprochen."

Angestaute Aggressionen

Die Wiener Linien haben zudem massive Probleme mit rücksichtslosen Autofahrerinnen und -fahrern. Allein im Jahr 2020 wurden die Öffis rund 1700-mal von Falschparkern aufgehalten. Bis zu 40 Minuten kann es dauern, ehe eine Bim wieder weiterfahren kann.

Egoisten fallen besonders im Autoverkehr auf. Etwa wenn sie auf die Autobahn auffahren, als hätten sie Vorrang, oder wenn sie in Folge dann drängeln und rasen. "Das Aggressionspotenzial auf unseren Straßen ist hoch, und wenn mehrere Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen, sind Konflikte vorprogrammiert", sagt Dieter Krainz, Verkehrspsychologe, -coach und Instruktor. Neben der Persönlichkeit der Fahrzeuglenkerin oder des -lenkers seien auch noch andere Faktoren wesentlich, um Aggression im Straßenverkehr entstehen zu lassen, erklärt er. "Etwa die momentane Gefühlslage sowie die persönliche Wahrnehmung und Interpretation einer bestimmten Verkehrssituation. Durch erhöhtes Verkehrsaufkommen oder Staus kommt es zu Stress, wodurch bei einigen die Aggression steigt, weil viel Verkehr oft eine Verzögerung beim Erreichen eines Ziels bedeutet. Manche Menschen betrachten den Straßenverkehr als einen täglichen Kampf gegen andere Verkehrsteilnehmer."

Die Folgen von Corona

Und auch die Folgen von Corona haben eine Auswirkung auf das Aggressionspotenzial, ist sich Krainz sicher: "Die im letzten Jahr entstandenen emotionalen und sozialen Herausforderungen gehen nicht spurlos an den Menschen vorüber. Aufgrund dieser Spannungszustände kann es zu aggressivem Verhalten anderen gegenüber kommen. Die empfundene Anonymität im eigenen Fahrzeug lässt dann normalerweise noch funktionierende Kontrollmechanismen im Menschen außer Kraft treten. Nach meiner Erfahrung hat mehr als die Hälfte der Kfz-Lenkenden in Österreich in den letzten zwölf Monaten zumindest einmal die Nerven verloren."

Das menschliche Sozialverhalten spiegelt sich auch im Straßenverkehr wider. Bezüglich des Ausspielens von Macht im Straßenverkehr sei vor allem der "risikofreudig-aggressive Fahrzeuglenkende" zu erwähnen. Krainz: "Nach Untersuchungen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit ist dieser Fahrertyp eher jung und männlich und weist eine eher geringe Fahrpraxis auf. Bei diesem Fahrertyp lässt sich häufig eine feindselige Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmenden beobachten, häufig auch ein Fehlverhalten, das zu Konflikten oder sogar zu Unfällen mit Personenschaden führen kann."

Er zeigt häufig rasantes Fahrverhalten, risikofreudiges und spätes Einordnen, gefährliches Wechseln der Spur sowie missverständliches Blinkverhalten. Das Abbremsen erfolgt spät beziehungsweise abrupt. Das Geschwindigkeitsverhalten ist überhöht und der Sicherheitsabstand meist zu gering. In Kreuzungs- und Spurwechselsituationen sind diese Personen weniger aufmerksam und gefährden bevorrangte Verkehrsteilnehmende. Risikofreudig-aggressive Lenker bekommen die meisten Verkehrsstrafen und verursachen die meisten Unfälle. Am wenigsten Unfälle verursachen unauffällige Durchschnittsfahrer.

Egoismus auf dem E-Roller

Bei Radfahrerinnen und Radfahrern ist die Situation eine ähnliche. Auch da gibt es Entspannte, Rücksichtsvolle und Aggressive. Letztere fühlen sich schon deswegen gerne im Recht, weil sie ja gegenüber den Autos die schwächeren Verkehrsteilnehmer sind. Sogar die E-Scooter kennen solche Lenker. 15 Prozent aller E-Scooter-Fahrer sind verbotenerweise auf dem Gehsteig unterwegs, überhaupt nur zwei Prozent geben Handzeichen, und die Fahrzeuge werden oft als Stolperfallen einfach auf dem Gehsteig liegengelassen oder – noch schlimmer – im nächsten Fluss entsorgt.

Der Egoismus endet nicht beim rücksichtslosen Lenken oder Benutzen eines Fahrzeuges. 7700 Tonnen Müll entfernte die Asfinag 2020 von den Raststationen und entlang der Schnellstraßen und Autobahnen. Was im Auto zu viel ist, wird von Egoisten oft achtlos aus dem Fenster gepfeffert. Und wenn man sich anschaut, was da entlang der Straßen so herumliegt, dürften einige in dieser Gruppe einen besonderen Geschmackssinn für Schachtelessen und beflügelnde Dosengetränke haben.

Doch der rücksichtslose Umgang mit Müll ist kein Phänomen, das auf Autofahrer beschränkt ist. Die Wiener Linien haben 2020 allein aus U-Bahn, Bim und Bus rund 180 Tonnen Müll entfernt. Und wenn Sie im Einkaufswagerl noch Reste vom vorhergegangenen Benutzer finden, können Sie fast davon aus gehen, dass das Wagerl vor kurzem noch Kontakt mit einer Ferse hatte und dann zu einer neu eröffneten Kassa abgebogen ist. (Guido Gluschitsch, 31.8.2021)