Im Herbst 2020 wurden erste Berichte über ein als wegweisend gedachtes Projekt der Stadt Wien lanciert. Eine fast 5.000 Quadratmeter große Konstruktion aus Glas und Stahl sollte einen Teil der Wienzeile beim Naschmarktparkplatz überdecken. Ein neuartiges Marktangebot darunter würde dadurch witterungssicher. Die Vision: "Ein Hauch von London in Mariahilf".

Rasch formierte sich Widerstand gegen das Projekt. Im Begleitdiskurs traten unterschiedliche Begründungen für eine Ablehnung hervor. Manche versagen dem Projekt ihre Unterstützung, weil sie an derselben Stelle einen begrünten öffentlichen Freiraum vorziehen. Andere bezweifeln die Notwendigkeit einer Erweiterung des bestehenden Marktangebots. Andere wieder echauffieren sich weniger über das Projekt an sich, sondern eher über das Vorgehen, einen öffentlichen Partizipationsprozess zu starten, in dem die Marktüberdachung an sich gar nicht mehr zur Diskussion steht.

Eine weitere hauptsächliche Gegenargumentationslinie betrifft den diffusen Themenkreis "Pflege des Kulturerbes". Erwähnt werden in diesem Zusammenhang in der Regel Otto Wagners berühmte Wienzeilenhäuser sowie die Stadtbahnstation Kettenbrückengasse aus ebendessen Büro. Der Tatbestand einer "Störung" dieser wichtigen Bauten durch eine Stahl-Glas-Konstruktion, die in ihrer Nachbarschaft entstehen soll, ist allerdings schwer festzumachen. Die Substanz der Altbauten (und somit der Denkmalschutz) wird ohnedies nicht berührt. Untergräbt das die Legitimität dieser Beanstandung?

Die sogenannten Wienzeilenhäuser (1898/99) von Otto Wagner sind die wohl bekanntesten Bauwerke an der Linken Wienzeile, aber nicht die einzigen beachtenswerten. Das sogenannte Majolikahaus (Nr. 40) war ob seiner Verkleidung mit polychromen Fliesen damalig eine Sensation. Aber auch die Ecklösung des benachbarten Hauses Nr. 38, ebenfalls von Wagner und mit Fassadendekor von Koloman Moser und einem Haustor von Jože Plečnik, wurde vielfach kopiert.
Foto: Maximilian Hartmuth

Was ein Ensemble wie erzählt

Wien um 1900. Im Zuge von Wienflussregulierung und Stadtbahnbau kommt es im Grenzbereich der heutigen Bezirke 4, 5 und 6 zu einer schlagartigen Entwicklung. Wenngleich die Vision eines Prachtboulevards zwischen Ringstraße und Schönbrunn nie einer Vollendung auch nur nahe kam, gelangte um die Stadtbahnstation Kettenbrückengasse eine doch beträchtliche Anzahl bemerkenswerter großbürgerlicher Wohnhäuser zur Ausführung. Auf rund einem halben Kilometer Länge reihen sich – insbesondere am linken Flussufer – guterhaltene Fassaden mit erkennbarem künstlerischem Anspruch aneinander, die die beträchtliche Bandbreite an Ausdrucksformen dieser Zeit dokumentieren.

Unter diesen Bauten sind Hauptwerke der Architekturgeschichte Mitteleuropas von Architekten wie Otto Wagner, Hubert und Franz Gessner, Oskar Marmorek und Jože Plečnik, verziert von renommierten zeitgenössischen bildenden Künstlern wie Koloman Moser und Anton Hanak. Diese Bauwerke werden in Reiseführern ausgewiesen und von Kunstbegeisterten aus aller Welt gezielt aufgesucht.

Manche Bauherren und Architekten zeigten sich von modernen Strömungen wenig beeindruckt. Der im Bild links hervorstechende "Renaissance-Hof" (Linke Wienzeile Nr. 56, 1901 von Jakob Modern) und das gegenüberliegende Zinshaus Hamburgerstraße 2 (= Rechte Wienzeile 49, 1902 von Adolph Oberländer und Rudolf Krauss) vertreten den sogenannten altdeutschen Stil. Schwer vorzustellen, dass gleichzeitig etwas außerhalb unseres Bildausschnitts das turmartige, sparsam dekorierte, jedenfalls in die Zukunft weisende "Miethaus Langer" von Jože Plečnik entstanden ist (1901, Steggasse Nr. 1 = Rechte Wienzeile 63). Ein Kulturkampf an der Wienzeile?
Foto: Maximilian Hartmuth

Zwischen Touristik und Didaktik

Andere Bauten im Ensemble belegen den Einfluss Wagners und seiner Schule auf weniger bekannte (und wohl auch weniger talentierte) Architekten und ihre Bauherren. Gerade im direkten Vergleich mit zeitgleichen Projekten in konservativeren Ausdrucksformen, wie er vor Ort durch ein anschauliches Nebeneinander mit Werken etwa im verklärenden "altdeutschen Stil" möglich ist, wird die Sonderstellung der Wagner-Schule deutlich.

Somit kommt diesem Ensemble ein hoher didaktischer Wert zu. Der Erhalt eines Panoramablicks auf Fassaden, die ob ihrer Lage am regulierten Wienfluss vielfach auf Fernsicht angelegt waren, ist dementsprechend bedeutsam. Ein Platzdach aus Stahl und Glas mit seitlichen Begrünungen würde aller Voraussicht nach die Sichtbarkeit, die Erfahrbarkeit und auch die Fotografierbarkeit bedeutender Architekturdenkmäler in ihrem städtebaulichen Zusammenhang signifikant beeinträchtigen.

Der "Boulevard-Hof" (1902) an der Linken Wienzeile Nr. 60 erinnert in seiner Benennung an die Vision einer flussbegleitenden Prachtstraße zwischen Ring und Schönbrunn. Das Projekt eines gewissen Ely Wasserstrom greift Elemente des Wagner-Stils auf, ohne sich vom Horror Vacui späthistoristischer Fassaden zu emanzipieren.
Foto: Maximilian Hartmuth

Was nun?

Vielleicht können sich die Verfechter der Markt-Dach-Idee darauf besinnen, dass eigentlich niemand die Vision eines überdachten Marktangebots an sich abgelehnt hat, sondern "nur" den dafür zunächst auserkorenen Standort. An einem anderen Ort in Wien könnte dasselbe Projekt bedingungslose Unterstützung erfahren und zum Katalysator für eine positive Gebietsentwicklung werden. Dort würde dann eine Sehenswürdigkeit nicht auf Kosten einer anderen geschaffen. (Maximilian Hartmuth, 13.10.2021)