Selbstverletzung als künstlerisches Werkzeug: Der in China sehr bekannte Performancekünstler He Yunchang ließ sich für "Eyesight Test" auf einem rostigen Eisenstuhl festbinden und starrte in 10.000 Watt starkes Licht.
Foto: He Yunchang

Zwei Hände nähen eine klaffende Wunde zu. Sticht die Nadel in das Fleisch, spannen sich die Muskeln, die Hände krallen sich in das blutige Laken. Doch das Video zeigt weder eine notwendige Operation noch einen echten Patienten. Sondern eine Kunstaktion.

Der chinesische Performancekünstler He Yunchang ließ sich für die hier dokumentierte Arbeit One Meter of democracy 2010 einen ein Meter langen Schnitt von der Schulter bis zum Oberschenkel etwa einen Zentimeter tief in die Haut ziehen. Betäubt wurde er dabei auf seinen eigenen Wunsch nicht, er war bei vollem Bewusstsein.

Im Vorfeld ließ der in China als Performance-Superstar bekannte Künstler eine Gruppe von etwa 30 Personen darüber abstimmen, ob er die Aktion überhaupt durchführen solle. Und wiederholte den Vorgang so lange, bis das Ergebnis mehrheitlich mit Ja ausfiel. Mit der Performance übte He Yunchang, der China 2013 gemeinsam mit sechs anderen auf der Biennale in Venedig vertrat, Kritik an dem autoritären System seines Heimatlandes und wies auf fatale Folgen von Entscheidungen jedes Individuums hin.

Steigerung zu Günter Brus

Seine Botschaften sind klar, die Aktionen radikal bis sisiphoshaft zermürbend: He Yunchang hängte sich stundenlang kopfüber – und mit aufgeschlitzten Armen – von einem Kran über einen Fluss, ließ sich (ohne medizinische Notwendigkeit) eine Rippe operativ entfernen oder trug einen Stein um das gesamte Großbritannien – um diesen am Ende wieder an seinem Ausgangspunkt abzulegen.

Die Dokumentationen seiner Aktionen (Fotografien und Video) sind jetzt in der Einzelausstellung The Golden Sunshine im Francisco Carolinum (FC) in Linz zu sehen. In der ehemaligen Landesgalerie wird dem 1967 geborenen Künstler seine erste Retrospektive in Europa gewidmet. Kuratiert hat diese die chinesische Kunstikone Ai Weiwei, der He Yunchang schon lange kennt und fördert. FC-Direktor Alfred Weidinger wurde wiederum durch Ai Weiwei auf den Künstler aufmerksam. In dessen Werke sieht er Parallelen zum Wiener Aktionismus. "He Yunchang setzt dort an, wo Günter Brus aufgehört hat", sagt Weidinger.

In "Dialogue wit Water" hängte sich He Yunchang über einen Fluss und versuchte diesen mit einem Messer sowie seinem Blut zu teilen, das ihm aus Wunden an den Armen floss.
Foto: He Yunchang

Blut ist Blut

Wobei die chinesische Sichtweise auf die eigene Performancekunst eine andere sei, als es beispielsweise in Europa der Fall ist. In China stehe Blut einfach für Blut und habe keine weitere metaphorische Bedeutung. Zwar gelten die Werke He Yunchangs auch in der chinesischen Gesellschaft teils als umstritten, dennoch sei die zur Schau gestellte Nacktheit in den Bildern oft schockierender als der tatsächlich zugefügte Schmerz.

Dass die chinesische "Flesh Art" lange Zeit als rein extrem interpretiert wurde, soll in der Ausstellung hinterfragt werden. Und es soll auch der Versuch unternommen werden, die Kunst He Yunchangs aus einer westlichen Perspektive zu sehen – und auch zu verstehen.

Das ist zugegeben nicht einfach. Vor allem weil die Aktionen überwiegend radikal wirken und auch die schmerzhaftesten Performances einer Marina Abramović zu übertreffen scheinen: In Eyesight Test ließ sich der Künstler 2002 nackt auf einem rostigen Eisenstuhl festbinden und starrte eine Stunde lang in 10.000 Watt starkes Licht. Dadurch fügte er seiner Sehkraft bewusst einen irreversiblen Schaden zu. Die Selbstverletzung diente ihm als Werkzeug, um die Kontrolle und Freiheit über seinen eigenen Körper zu demonstrieren. Als Betrachter bemüht man sich, das nicht als puren Masochismus zu empfinden.

Kein Märtyrer

Doch He Yunchang möchte keinerlei Zurückhaltung in seiner politischen Kunstpraxis ausüben und geht dafür an sein körperliches Limit. "Meine einzige Bedingung ist, am Leben zu bleiben. Ich setze Performancekunst ein, um auszudrücken, was mir wichtig ist und was ich verachte", erklärt der fast schüchtern wirkende Künstler. Als Märtyrer möchte er jedoch nicht verstanden werden.

Dass seine Arbeit, abgesehen vom gesundheitlichen Aspekt, auch eine andere Gefahr birgt, scheint dabei fast nebensächlich. Denn vor allem die präsente Nacktheit darin kann für den in Peking lebenden Künstler zu Problemen mit der Polizei bis hin zu Gefängnisstrafen führen. Öffentlich dürfen seine Aktionen in China nicht gezeigt werden. Viele finden bei ihm zu Hause statt, eingeladen werden dazu nur engere Bekannte.

Ausstellungen müssen genauso wie Theaterstücke in China registriert werden. Hierbei zähle aber selten der Inhalt, sagt der Künstler, der richtige Stempel müsse nur an der richtigen Stelle stehen. Eine Farce, die durchlaufen werden muss. Wenn es das Kunstwerk benötigt, gibt es für ihn keine Grenzen. (Katharina Rustler, 15.10.2021)