Auf Spitzbergen konnte nahe einer Polarstation beobachtet werden, wie ein Eisbärweibchen ein Rentier angriff (Symbolbild).
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Wenn ein ungewöhnlicher Vorfall beobachtet wird, kommt es schon mal vor, dass der Koch einer Forschungsstation zum Kameramann wird. So erging es Mateusz Gruszka von der polnischen Polarstation, die sich am Fjord Hornsund auf der norwegischen Insel Spitzbergen befindet. Er konnte erstmals filmisch festhalten, wie ein Eisbär ein Rentier erlegt – etwas, das schon seit längerem vermutet, aber noch nie bewiesen wurde.

Das Video, auch auf der Website des Fachmagazins "Science" zu sehen, ist zwar ziemlich verwackelt, das Geschehen aber durchaus erkennbar. In etwa einhundert Metern Entfernung näherte sich ein recht wohlgenährtes Eisbärweibchen einer Gruppe Rentiere. Als sie bemerkt wurde, verfolgte sie ein männliches Ren und trieb es vom Ufer ins Meer. Im Wasser griff das Raubtier zu und tötete sein Opfer innerhalb einer Minute. Dann zog es die Beute an Land.

Im Triathlon unterlegen

Zugetragen hat sich das Ereignis bereits vor rund einem Jahr, im August 2020. Erst kürzlich erschien aber die Beschreibung und Einordnung des Ereignisses im Fachblatt "Polar Biology" unter dem Titel "Yes, they can". Autorin und Biologin Izabela Kulaszewicz von der Universität Danzig war mehr als überrascht darüber, wie sich die Jagd zugetragen hat: "Ich war schockiert. Ich dachte, dass Rentiere gute Schwimmer seien und der Bär ein größeres Problem damit haben würde, das Rentier zu fangen."

Auch ihr Kollege, der Danziger Ökologe Lech Stempniewicz, hält die Jagd im Meer für außergewöhnlich. Aber während Rentiere über lange Strecken gut laufen und schwimmen können, hatte das Opfer des Eisbärs keine Chance. Das sei gewissermaßen ein "Triathlon" gewesen, "der aus einem Sprint, dem Schwimmen in seichtem Gewässer mit unebenem, steinigem Boden, mit Schären [kleine, felsige Inseln, Anm.] und Eisschollen, sowie Wrestling bestand – da ist der Bär einfach unschlagbar", sagt Stempniewicz.

Alternativer Snack

Im Artikel gehen die Fachleute auch auf frühere Berichte ein, in denen vom Verzehr von Rentierfleisch durch Eisbären die Rede war. Mindestens zwölf solcher Berichte gibt es, nicht immer ist eindeutig, ob die Eisbären zuvor aktiv Jagd auf die Paarhufer gemacht haben. Der Forschungsgruppe zufolge dürften solche Ereignisse allerdings immer häufiger vorkommen.

Üblicherweise ernähren sich Eisbären vor allem von Robben, die sie weit vor der Küste fangen. Auf Eisschollen nutzen sie Löcher, um ihre Beute anzugreifen. Das fettreiche Gewebe der Robben sorgt dafür, dass ein Eisbär, der eine erwachsene Robbe erlegt hat, durch den Verzehr mehr als zehn Tage lang überleben kann. Frisst er genug, kann er monatelang ohne weitere Mahlzeiten auskommen.

Immer häufiger müssen Eisbären aber an Land auf Jagd gehen – vor allem im Sommer, der gewissermaßen immer länger wird. Denn durch die globale Erwärmung schmilzt das Meereis im Jahresverlauf immer früher. Bisher wurden Eisbären schon dabei beobachtet, wie sie Vogeleier und Nagetiere fraßen; manchmal suchen sie sogar auf Mülldeponien nach Essbarem.

Keine langfristige Gegenmaßnahme

Sind sie mit einer Methode erfolgreich, lernen sie daraus und wenden sie häufiger an. Dasselbe Bärenweibchen, das das Rentier im Meer erlegte, wurde beispielsweise schon einen Tag später mit einem anderen Rentierkadaver am Ufer beobachtet. Diesen überließ es aber großteils Füchsen und Möwen, vermutlich war der Bauch zu voll für eine weitere große Mahlzeit.

Dieses alternative Jagdverhalten könne man als eine "gute Nachricht betrachten, zumindest für die lokalen Eisbären", sagt Steven Amstrup, leitender Wissenschafter der gemeinnützigen Organisation Polar Bears International. Auf Spitzbergen leben etwa 20.000 Rentiere, die bisher jedoch kaum mit Fressfeinden zu kämpfen hatten. Im Sommer könnten sie für Eisbären, die ansonsten in ihrer Ernährungsweise eingeschränkt sind, immer öfter zur Beute werden. Amstrup betont aber auch, dass der Lebensraumverlust der Bären dadurch nicht ausgeglichen wird: "Es handelt sich um eine wirklich interessante Beobachtung, und das mag kurzfristig für einige Bären nützlich sein. Aber langfristig kann ich mir nicht vorstellen, dass das die Rettung für Eisbären sein wird." (red, 26.10.2021)