Am Zücken des Spiralblocks im Parkett vor der Schauspielbühne erkennt man bis heute zuverlässig den Theaterkritiker – auch wenn um den Block mitunter ein Handgemenge entsteht.

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Eine Beeinträchtigung muss jeden Theaterkritiker besonders hart anfechten, mag er sein Amt auch seit langem zurückgelegt haben: der Verlust der Sehkraft. Günther Rühle, Kritiker, Intendant, Theaterhistoriker, hat dem Umstand seiner allmählichen Erblindung ein unmöglich scheinendes Buch abgerungen. In Ein alter Mann wird älter beschreibt der heute 97-Jährige die Schmach zunehmender Hilflosigkeit sogar als Zuwachs. Mit Macht stellen sich ihm die alten Schicksalsfragen – auch wenn ihm die Wirklichkeit zusehends "zerschwimmt", Rühle seine monumentale deutsche Theatergeschichte (zwei Bände liegen vor) nicht mehr vollenden kann. Ein Theodor-Mommsen-Schicksal. Dieser konnte seine berühmte Römische Geschichte bekanntlich auch nicht beenden.

Günther Rühle, Witwer, lebt heute im Taunus. Gelegentlich reminisziert er, ohne Bitterkeit spüren zu lassen, seine nicht wirklich erfolgreiche Ära als Intendant des Frankfurter Schauspiels (1985 bis 1990): Lehrjahre des Gehasstwerdens. Man zieh Rühle schlimmster Verfehlungen, warf ihm antisemitische Unbedenklichkeit vor, als er Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod uraufführen ließ. Man entfesselte gegen seinen Regie-Schützling Einar Schleef eine Denunziationskampagne. Schleef wurde quasinazistischer Inszenierungsumtriebe verdächtigt. Ein unrühmliches deutsches Theaterkapitel.

Macht und Ohnmacht

Neben all dem badete Rühle, der seinerseits bis 1974 prägnante Rezensionen in der FAZ geschrieben hatte, die Folgen des eigenen Seitenwechsels aus. Rühle wurde ’74 Feuilletonchef. Er durfte aber im Gegenzug in der eigenen Zeitung nicht mehr über Theater schreiben. Macht und Ohnmacht schienen in Rühles Fall miteinander verschmolzen. Dafür galt ein (an seiner Arbeit behinderter) Kritiker späterhin für fähig, den Intendanten zu mimen: Die "Großzeitungskritiker" (Gerhard Stadelmaier) genossen während langer Zeit, etwa bis zu Anfang der Zweitausendzehnerjahre, das höchstmögliche Renommee. Allein in den Klecksen ihrer säurehaltigen Tinte schienen ausreichend Proben von Weltgeist enthalten.

In den wechselhaften Geschicken des Sprechtheaters nach 1945 kam die Kultur der Westdeutschen zu sich. Sie hatte aufzuholen, den Schmutz der Nazi-Barbarei von den Perücken zu schütteln. Erst in den Prosawiedergaben wichtiger Theateraufführungen ließen sich die "entscheidenden Fragen der Zeit", entsprechend entschärft, zufriedenstellend abhandeln. Die Frage nach dem Sinn eines abgespreizten Fingers der Schauspielerin Jutta Lampe in einer Berliner Schaubühnen-Aufführung: Sie konnte über den Ausgang ganzer Fortschrittsdebatten im Nu entscheiden.

Der Kritikerberuf? Schwoll unter solchen Bedingungen der Ersatzleistung zu höchster Bedeutsamkeit an. Ob nun Friedrich Luft in Westberlin während vieler Jahrzehnte das Richtschwert schwang, ob Georg Hensel in Frankfurt mit feiner Ironie verzauberte, alle wichtigen Großkritiker durften sich angekommen wähnen: im Herzen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Als Botho Strauß’ Der Schlusschor zur Uraufführung anstand, schrieb Benjamin Henrichs, der Prosa-Puck der Zeit: "Deutschland vor, noch ein Chor!" Damit war das glückliche Problem der deutschen Wiedervereinigung ausreichend gewürdigt.

Zuletzt hat die "Steuerungsfunktion" der Sprechtheaterkritik, die Relevanz ihres Schmollens und Wähnens, stark gelitten. Neue Medien schossen ins Kraut. Immer seltener scheint die Gesellschaft jener Heldinnen und Helden bedürftig, die in Stellvertretung ihrer Leser pflichtschuldig Furcht und Mitleid empfinden.

Wohlfeile Ohrfeige

Die "nachschöpferische" Leistung der Theaterkritik ist gegenüber ihrem Servicecharakter entscheidend ins Hintertreffen geraten. Zugleich trieb sie Blüten skurriler Dekadenz. So, als dem wortgewaltigen FAZ-Kritiker Stadelmaier 2006 während einer Aufführung der Spiralblock mit Notizen von einem auf Krawall gebürsteten Schauspieler entrissen und von Letzterem höhnisch zur Schau gestellt wurde. Die kleine Affäre landete prompt auf der Seite eins des Frankfurter Weltblatts! In Österreich gab man sich mit der Verabreichung von Ohrfeigen zufrieden: Hans Weigel holte sich eine solche 1956 wohlfeil bei Burgschauspielerin Käthe Dorsch ab.

Somit stimmt einen die Lektüre von Günther Rühles Abschiedsbuch gleich doppelt melancholisch. Es gilt, Weisheitsproben eines Intellektuellen aufzuschnappen, der im Blindflug über Computertasten über die eigene Hinterlassenschaft nachsinnt. Doch mit Rühles Augenlicht erlischt zugleich symbolhaft die gesellschaftliche Funktion einer autonomen, weitgehend ihrem Gutdünken überlassenen Theaterkritik. Über das Ausmaß des Verlusts existieren kaum erste Annahmen. (Ronald Pohl, 28.10.2021)