Sind wir empathische Mitmenschen – oder einfach nur Voyeure?
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Ich steige morgens in die U-Bahn, setze die Kopfhörer auf und drücke auf Play. Die anderen im Wagon unterhalten sich, schauen in ihre Handys. Ich schaue aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Stadt, während Lizzie Borden in meinem Ohr an einem heißen Augusttag 1892 ihren Vater und die Stiefmutter mit der Axt erschlägt – oder auch nicht, der Fall wird wohl nie restlos geklärt sein. Da – meine Station. "Stay sexy and don’t get murdered", verabschieden sich die Moderatorinnen der Podcast-Folge fröhlich, der Arbeitstag kann beginnen.

Und ich frage mich: Ist mein Interesse an blutrünstigen Verbrechen normal? Wer, außer reizenden älteren Britinnen, sagt schon offen "Mord ist mein Hobby", ohne konsternierte Blicke zu ernten? Nun: ziemlich viele. Seit Jahren boomt das Genre "True Crime", Podcasts, Serien und Magazine erzählen von echten Kriminalfällen. War früher "Aktenzeichen XY" im TV ein Straßenfeger, so gibt es nun Millennial-mäßig True-Crime ohne feste Sendezeit, abrufbar als Audio-Podcast oder Dokuserie im Streamingdienst. Wie kam es dazu?

Es ist 1959. Der letzte Tag im Leben der Familie Clutter verläuft wie jeder andere auch. Tochter Nancy bäckt Kirschkuchen, Sohn Kenyon zimmert eine Truhe, Vater Herb nimmt am Treffen seiner Wohltätigkeitsorganisation teil, Mutter Bonnie zieht sich mit Kopfschmerzen auf ihr Zimmer in der abgelegenen Farm in Kansas zurück. Wenig später wird die geachtete Familie von zwei ehemaligen Häftlingen kaltblütig abgeschlachtet. Warum wir das heute noch so genau wissen? Der Schriftsteller Truman Capote recherchierte über sechs Jahre zur Geschichte des Mordfalls und veröffentlichte sie 1966 in seinem Roman "Kaltblütig". Er trug Informationen zusammen, führte Interviews mit den unmittelbar Beteiligten – und auch mit den beiden Mördern, als sie im Gefängnis auf die Vollstreckung der Todesstrafe warteten. Mit dem Buch wollte Capote einen "non-fiktionalen Roman" erschaffen, der beweisen sollte, dass eine Tatsachenerzählung genauso spannend sein kann wie ein raffinierter Thriller.

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Das Grauen wird millennial

Dies sei die Geburtsstunde der True-Crime-Literatur gewesen, heißt es oft. Das stimmt so aber nicht ganz. Zum einen kam der argentinische Journalist und Schriftsteller Rodolfo Walsh mit "Operación Masacre" Capote ein knappes Jahrzehnt zuvor. Zum anderen ist die Lust am Grauen ein alter Begleiter der Menschen. Schon vor hunderten Jahren erzählten Bänkelsänger mit ihren Moritaten mehr oder weniger wahrheitsgetreu von schauderhaften Verbrechen: "Kommt, seht und hört, ihr Menschenkinder, die schlimmen Taten arger Sünder", begannen oft die Balladen. Eine Einleitung, die sich mühelos so auch im heutigen True-Crime-Genre verwenden ließe.

Einen neuen Hype erleben die nacherzählten Verbrechen seit 2014 – damals ging der Podcast "Serial" erstmals online. Die amerikanische Journalistin Sarah Koenig rollte in der ersten Staffel – mittlerweile gibt es drei – den Mord an der High-School-Schülerin Hae Min Lee aus dem Jahr 1999 auf. Wurde Lees Ex-Freund Adnan Syed zu Unrecht als Täter beschuldigt? Die Frage blieb offen, Syed sitzt, allen Zweifeln an seiner Schuld zum Trotz, bis heute im Gefängnis. Die Podcast-Serie ließ ein gebanntes Millionenpublikum zu Hobbydetektiven mutieren. 300 Millionen Mal wurde allein die erste Podcast-Staffel herunter geladen.

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Das Sterben der anderen

Es war die Initialzündung für eine Reihe an True-Crime-Formaten: Unzählige Podcasts, Doku-Serien, Filme, Hochglanzmagazine und Youtube-Kanäle widmen sich nun den Abgründen der menschlichen Seele. Längst ist es kein Schmuddelthema mehr: Von Arte bis TLC hat fast jeder Sender ein True-Crime-Format im Programm, von der Kronen Zeitung bis zur deutschen Zeit veröffentlichen Verlage spezielle Verbrechensmagazine.

Erste Berührungspunkte mit einem True-Crime-Format hatte ich bereits in jungen Jahren durch die ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY … ungelöst", die bis 2003 mit dem ORF co-produziert wurde. Von den Eltern zur Tabusendung erklärt, übte das Verbotene unwiderstehlichen Reiz aus. Wenn Moderator Eduard Zimmermann sachlich das von Laiendarstellern nachgespielte Grauen anmoderierte, hinterließ das, aller schauspielerischen Hölzernheit zum Trotz, bleibenden Eindruck. Was man da sah, das war echt. Schon als Kind erkannte ich, dass der Einsatz hier ungleich höher war als etwa bei "Kommissar Rex", wo am Ende das Gute siegte. Bei "Aktenzeichen XY" blieb hängen: Das Böse lauert da draußen. Eine beunruhigend faszinierende Vorstellung.

Das ist es bis heute geblieben. Während man also drinnen, in den eigenen vier Wänden, die Wäsche bügelt und dabei eine Doku-Serie über den Serienkiller Ted Bundy anschaut, macht sich paradoxerweise oft eine gewisse Entspannung breit. Und das ist ganz normal, attestiert Sharon Packer, Psychiaterin und Professorin an der Icahn School of Medicine des Mount-Sinai-Krankenhauses. In einem Interview meint sie zu diesem Gefühl: "Wie auch immer es der Zufall wollte, zumindest zog jemand anderer den Kürzeren. Man verspürt Erleichterung, dass es eine andere Person traf und nicht einen selbst."

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Eine sympathische Regung? Wohl kaum. Aber menschlich. Es war ein anstrengender Tag – aber zumindest wurde man nicht ermordet. Das funktioniert auch in Hinblick auf den Täter, sagt Packer: "Menschen finden es beruhigend, dass es nicht sie sind, die die Kontrolle über ihre Impulse verloren haben." Wir ergründen also die Abgründe anderer Menschen und unsere eigenen, begeben uns dabei aber nicht in Gefahr.

Das spricht offenbar speziell Frauen an, sie stellen die deutliche Mehrheit der Leser-, Hörer- und Seherschaft. So sind beispielsweise 81 Prozent der Leserschaft des deutschen Magazins "Stern Crime" (Auflage 90.000 Stück) weiblich. Katja Kunert, psychologische Psychotherapeutin bei Instahelp, der Plattform für psychologische Beratung: "Die Beschäftigung mit Gewaltverbrechern könnte als eine Art Vorbereitung dienen. Der Konsum kann dazu führen, sich Erkenntnisse anzueignen, die davor schützen, selbst Opfer eines Verbrechens zu werden." Frauen scheinen unter anderem also – ob bewusst oder unbewusst – für den Ernstfall zu lernen.

Der Blick in den Abgrund

Das Böse fasziniert die Menschen also. Schließlich entscheiden sich die großen Menschheitsfragen daran, sagt Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der "Zeit" und Moderatorin des erfolgreichsten deutschsprachigen True-Crime-Podcasts "Zeit Verbrechen". Ist jeder Mensch gut und böse – und zu welchen Teilen? Man wolle verstehen, wie es dazu kommt. "Mich interessiert die politische und gesellschaftliche Dimension des Verbrechens. Ich glaube, das gilt auch für andere", sagt Rückert. Aber kann man bei der Beschäftigung mit dem Thema Mord wirklich ausschließlich von so hehren Motiven ausgehen? So einfach ist es leider nicht, sagt Psychologin Katja Kunert: "In einer der wenigen Studien, die sich explizit mit True-Crime-Podcasts beschäftigt, fand man heraus, dass die Motivation dafür, dieses Format zu konsumieren, in den folgenden Motiven bestand: Langweile, Unterhaltung und bequemer Zugang zum Medium." Das klingt schon weniger ehrenwert.

Das verdeutlicht auch der aktuelle Fall der zunächst verschwundenen und schließlich ermordet aufgefundenen Bloggerin Gabby Petito. Atemlos wurden auf Tiktok, Instagram und Youtube von unzähligen Accounts Updates und Theorien zum Vermisstenfall geteilt. Ein Verbrechen in Echtzeit – und getrieben von Sensationslust und Voyeurismus fieberten Millionen live mit. 1,7 Milliarden Mal wurde allein auf Tiktok der Hashtag #GabbyPetito aufgerufen, die Follower-Zahl auf Petitos Instagram-Account stieg mit ihrem Verschwinden von rund 45.000 auf 1,3 Millionen an. Der Fall zog – auch weil so viele Videos und Bilder des Paares frei zugänglich waren – so weite Kreise, dass auch etliche Anhänger des True-Crime-Genres zur Selbstreflexion das eigene düstere Interesse betreffend gezwungen waren. Man kann schließlich schwer die jungen Tiktoker verurteilen, wenn man selbst nächtens Petitos Instagram-Posts durchscrollt.

Lobby für Opfer

Achtet man dabei noch die Würde des Opfers und ist ernsthaft an ihrem Schicksal interessiert – oder befriedigt man einfach nur die eigene Sensationsgier? Auch die Berichterstattung der Medien wurde kritisiert. Erhielt der Fall nur deshalb so viel weltweite Aufmerksamkeit, weil es sich beim Opfer um eine weiße, attraktive Frau handelte? Entlang des sogenannten "Highway der Tränen" im kanadischen British Columbia verschwanden seit den 1970er-Jahren mindestens 18 großteils indigene Frauen, manche Quellen sprechen gar von über 40 Verschwundenen. Das Interesse der Öffentlichkeit daran ist vergleichsweise gering, medial werden die Vermisstenfälle nur selten oder maximal in kanadischen Regionalzeitungen etwas größer aufgerollt.

Zumindest hier kann die Faszination für True Crime im besten Fall auch etwas bewirken. Wenn das Licht des öffentlichen Interesses in die stillen oder vergessenen Ecken scheint, kann das am Ende auch den Opfern von Gewaltverbrechen eine Lobby verschaffen und dafür sorgen, dass jene, die noch auf späte Gerechtigkeit warten, nicht aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden.

Die Welt, in der wir leben, ist eben nicht nur gut und auch nicht nur schlecht. Genauer hinzusehen, auch wenn es unangenehm ist, ist wichtig – solange man den eigenen moralischen Kompass im Blick behält. (Anya Antonius, 30.10.2021)