Martin Kocher (ÖVP) ist derzeit extrem umtriebig. Der Arbeitsminister hat im September einen Reformdialog zur Arbeitsversicherung gestartet. Seither bereiste er mehrere Staaten, darunter die USA und Schweden, um vor Ort mehr über die Systeme der Länder zu erfahren. Er führt Gespräche mit Sozialpartnern und Opposition in Österreich. Fix ist nichts, aber ein Element der Reform könnte ein degressives Arbeitslosengeld sein, das mit der Zeit absinkt. Vor allem die ÖVP bekundet dafür Sympathien.

STANDARD: Macht es Sinn, wenn das Arbeitslosengeld absinkt: Kann das einen positiven Effekt auf die Beschäftigung haben?

Weber: Die Diskussion dazu lief in Österreich unglaublich einseitig ab. In der Wissenschaft gibt es nicht viele Studien dazu, welches Arbeitslosengeld das Beste ist: ein ansteigendes, ein sinkendes oder ein gleichbleibendes. Anhand von Reformen in Arbeitslosenversicherungssystemen anderer Länder lassen sich aber bestimmte Parameter abstecken. In Schweden wurde für bestimmte Gruppen mit sehr hohem Arbeitslosengeld ein degressives Modell eingeführt, bei anderen Jobsuchenden gab es das nicht. In einer Studie wurden die Auswirkungen davon untersucht. Eines der Ergebnisse war, dass es bei Langzeitarbeitslosen keinen Sinn hat, das Geld zu kürzen. Sie finden deshalb nicht eher Arbeit. Bei Menschen, die erst sehr kurz ihren Job verloren haben, ist es etwas anders. Diese Leute bleiben etwas länger ohne Beschäftigung, wenn die Unterstützung höher ist. Hier würde es also Sinn machen, etwas weniger zu zahlen.

STANDARD: Wie sieht das ideale Modell aus?

Weber: Die Forscher der schwedischen Studie kommen zu dem Ergebnis, dass es optimal wäre, wenn das Arbeitslosengeld mit der Zeit ansteigen würde. Es gibt also mehrere Ansätze für Reformen. Wenn, dann sollte man das offen diskutieren.

STANDARD: Sie sagen, die Debatte komme Ihnen einseitig vor. Warum?

Weber: Weil plötzlich ein degressives Modell als Allheilmittel gegen hohe Arbeitslosigkeit angepriesen wird. Dabei wird noch etwas übersehen: Wenn man sich den Bestand der arbeitslos gemeldeten Menschen in Österreich ansieht, dann gibt es eine große Gruppe, die lediglich für eine kurze Zeit, zum Beispiel drei Monate, ihren Job verliert. Das betrifft vor allem Saisonbeschäftigte, etwa im Bau oder Tourismus. Von den Neueintritten in die Arbeitslosigkeit haben etwa 40 Prozent eine Wiedereinstellungszusage von ihrem früheren Dienstgeber mit geplantem Einstellungsdatum. Davon kehren dann rund 57 Prozent wieder zum vorherigen Dienstgeber zurück. Auch von den Arbeitslosen ohne Einstellungszusage kehren 19 Prozent wieder zum vorigen Arbeitgeber zurück.

Viele Saisonarbeitskräfte werden beim AMS zwischengeparkt.
Foto: Imago

STANDARD: Warum ist das relevant für die Debatte über die Höhe des Arbeitslosengeldes?

Weber: Weil diese Menschen auf Änderungen bei der Höhe des Arbeitslosengeldes kaum reagieren. Die Leute kehren ohnehin in ihre alten Jobs zurück. Für diese Menschen ist wichtig, was mit dem vorherigen Dienstgeber vereinbart ist. Wenn das Arbeitslosengeld reformiert und am Anfang mehr bezahlt wird, dann gibt man diesen Leuten mehr Geld, ohne dass das eine Auswirkung auf die Dauer der Jobsuche oder sonst etwas hätte. Ein großer Teil der Mittel würde verpuffen.

STANDARD: Aber es gibt Studien, die zeigen, dass eine etwas kürzere Bezugsdauer sehr wohl dazu führt, dass Menschen schneller einen Job finden.

Weber: Es gibt für Ungarn eine Studie. Dort gab es ein gleichbleibendes Arbeitslosengeld, das dann am Anfang etwas angehoben wurde, bei längeren Bezug ist es abgesunken. Im Schnitt blieben die Zahlungen gleich. Mit dieser Maßnahme konnte die Dauer der Arbeitslosigkeit gesenkt und damit sogar Kosten gespart wurden. Aber das war in Ungarn, wo die Höhe der Unterstützung von vornherein niedriger ist als in Österreich und wo der Arbeitsmarkt ganz anders funktioniert. Diese Studie nehmen sich viele zum Vorbild. Aber dass sich die Ergebnisse 1:1 auf Österreich umlegen lassen, würde ich bezweifeln.

STANDARD: Im Kern der Debatte geht es ja auch darum, wie viel Druck auf Arbeitslose nötig ist.

Weber: Wenn das Geld ausgeht, werden sich Menschen natürlich eher bemühen, wieder schnell etwas zu finden. Aber es kann auch sein, dass sie dann den erstbesten Job nehmen, der nicht sehr stabil und nicht sehr gut bezahlt ist. Damit würde mehr Druck mehr Menschen in Beschäftigung pushen. Das Ganze wäre aber öfter nur von kurzer Dauer. Und das ist ja auch nicht gewollt. Dazu haben wir eine Studie, die zeigt, dass Menschen, die länger anspruchsberechtigt sind beim Arbeitslosengeld, bessere Jobs finden in Bezug auf ihre Löhne. Diese Menschen können eher in Ruhe suchen und schlechte Angebote ablehnen.

STANDARD: Was ist Ihre Conclusio aus dem?

Weber: Es ist gut, ein Arbeitslosengeld zu haben, das angemessen ist und Menschen ermöglicht, einen gewissen Lebensstandard zu halten. Jobsuchende brauchen Unterstützung bei der Arbeitssuche. Daher ist das Monitoring des AMS wichtig, ob die Betroffene auch wirklich Suchaktivitäten setzen. Aber insgesamt hat Österreichs Arbeitslosenversicherungssystem gut funktioniert in der Vergangenheit. In der jüngsten Krise gab es zwar einen starken Anstieg bei der Zahl der Jobsuchenden. Aber davor war Österreich im europäischen Vergleich immer gut unterwegs. Dass man jetzt aufgrund der Situation nach der Pandemie unbedingt eine Reform will – da sehe ich das Argument dafür nicht ganz.

"Insgesamt hat Österreichs Arbeitslosenversicherungssystem gut funktioniert", sagt Andrea Weber.
Foto: CEU

STANDARD: Viele Betriebe klagen, dass sie offene Stellen nicht besetzen können, obwohl es mehr als 300.000 Arbeitslose gibt.

Weber: Am Arbeitsmarkt gibt es viele freie Stellen und viele Arbeitskräfte. Dass der Richtige den Richtigen findet, ist nicht einfach: Dieses Matching ist ein schwieriger Prozess, und allein durch diese Suche entsteht schon Arbeitslosigkeit. Das wird immer ein Problem sein. Dabei ist klar, dass nach der Pandemie und den Lockdowns, wenn plötzlich alles wieder hochfährt und viele Unternehmen gleichzeitig suchen, mehr Arbeitgeber durch die Finger schauen.

STANDARD: Diskutiert wird auch über die Zuverdienstgrenze. Aktuell kann ein Arbeitsloser bis zur Geringfügigkeit dazuverdienen, das sind um die 475 Euro. Soll das so bleiben?

Weber: Wir haben uns das vor einiger Zeit angesehen und gefunden, dass die meisten Menschen, die zum Arbeitslosengeld etwas dazuverdienen, schon vorher geringfügig beschäftigt waren. Diese Leute hatten also zwei Jobs und verlieren ihren Hauptjob. Es geht also weniger um Menschen, die zum AMS gehen und sich dann erst eine kleine Beschäftigung suchen. So gesehen finde ich es weniger bedenklich, dass wir diese Zuverdienstmöglichkeit haben. Eher sollte überlegt werden, ob generell die Möglichkeit einer geringfügigen Beschäftigung in dieser Art überhaupt Sinn macht. Die Betriebe zahlen weniger Sozialabgaben. Aber für Menschen kann das ein Nachteil sein, besonders für Frauen, die später niedrigere Pensionen bekommen. (András Szigetvari, 4.11.2021)