Musik zur Zeit: Rebecca Lucy Taylor alias Self Esteem produziert auf ihrem Album "Prioritise Pleasure" genau das.

Foto: Fiction / Universal Music

Die Emanzipation von einer Beziehung mündet oft in einer Abrechnung. Hat sich viel aufgestaut, bricht der Damm. Bei Rebecca Lucy Taylor war das der Fall: Schon zwei Alben lang betreibt sie auf emotional radikale Art Emanzipation, selbst ihr Künstlername ergab sich aus dieser Mission. Taylor nennt sich Self Esteem – Selbstachtung. Diese, sagt sie in Interviews, habe sie zu lange außer Acht gelassen. Zu lange habe sie erduldet, was andere ihr diktiert haben. Zu lange ließ sie sich auf eine Rolle festlegen, die sie nicht gewählt hatte. Stichwort ungesunde Beziehungen und Schlimmeres.

Rebecca Lucy Taylor ist 35 und seit 15 Jahren im Musikgeschäft. Die Britin war eine Hälfte der aus Sheffield kommenden Band Slow Club. Musik war für sie eine Mischung aus Flucht und Therapie. Taylor fühlte sich früh als Außenseiterin, wusste nicht, wie sie konventionellen Lebenserwartungen von Job, Familie, Mutter entsprechen sollte. Musik und das unstete Leben, das es mit sich bringt, schien ihr ein guter Ausweg zu sein, aber nein. Deshalb hat sie den Ausweg vom Ausweg gesucht – und wurde Solokünstlerin.

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Das hat den Vorteil, dass sie niemandem Rechenschaft abzulegen hat, alle Entscheidungen selbst treffen kann, Kompromisse gar nicht oder nur mit sich selbst ausmachen muss. Allzu viele scheint Taylor nicht zu machen. Ihre Texte sind das, was die britische Presse "brutal ehrlich" nennt.

Therapie und Pandemie

Tatsächlich nimmt sie sich kein Blatt vor den Mund, wenn sie davon singt, eine sexuell aufgeschlossene Frau zu sein, aber aufgrund von Übergriffen ihres Selbstbewusstseins beraubt worden zu sein. Und dass sie das nie wieder zulassen wird. Und wie mühsam der Weg zurück ist, samt Therapie und dann die Pandemie auch noch, die eine Normalität in vielen Bereichen einer hedonistischen Lebensführung nicht zulässt. Dementsprechend heißt ihr nun erschienenes zweites Album Prioritise Pleasure.

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Das besitzt manifesten Charakter, doch Taylor hat kein übertriebenes Sendungsbewusstsein. Sie missioniert nicht, sie gibt zu, das ganz egoistisch für sich selbst zu tun. Zwar ist ihr klar, dass sie damit den Nerv des Zeitgeists trifft, Stichwort MeToo. Sie sieht sich aber nicht in der Pflicht, Teil einer Bewegung zu sein. Sie berichtet einfach, was ihr passiert ist und wie sie für sich entschieden hat, damit umzugehen. Wenn das anderen hilft, umso besser, aber für Rebecca kommt Rebecca zuerst.

Industrial Gospel

Das könnte in Selbsttherapiemusik zu Duftkerzen und Atemübungen ausarten. Doch Taylor ist dafür nicht der Typ. Als auch am Schlagzeug versierte Multiinstrumentalistin investiert sie viel Arbeit in die Rhythmik. Dabei verfällt sie in Songs wie I’m Fine in eine Art Industrial Gospel. Da taucht eine zart-spirituelle Anmutung auf, die auch poppigere Songs auszeichnet. Perforiert werden diese von gesprochenen Passagen.

Self Esteem - Topic

So erzählt in einem Wortsample am Ende von I’m Fine eine Frauenstimme davon, dass sie beim Treffen mit unangenehmen Männergruppen zu bellen beginnt, wie ein Hund. Warum? "There is nothing that terrifies a man more than a woman that appears completely deranged."

Einflüsse sind von Madonna über Baz Luhrmans Lebenshilfe-Song Everybody’s Free To Wear Sunscreen bis zu den US Girls einige auszumachen, wenngleich Taylor stärker im Alternative-Music-Segment verwurzelt ist als im Hochglanz-Pop. Doch die Haltung einer Madonna zeigt sich ebenso wie die Absicht, tanzbare Musik zu produzieren.

Kuschelzellen? Fuck off

Damit gelingt ihr ein Spagat, der im Resultat eine Art nachdenklichen Hedonismus gebiert. Einen radikalen Chic, der Herz, Hose und Hirn anspricht. Er entstammt einer sensiblen Hemdsärmeligkeit, die keinen Safe Space will, sondern eine Welt, in der eine Frau zu ihren Bedingungen Frau sein kann. Zugewiesene Kuschelzellen? Fuck off.

Taylors Musik zeigt Verletzlichkeit, aber noch mehr eine resiliente Kraft. Sie ist geprägt vom Willen, Unrecht zu überwinden. Mit Texten, die sich nichts verbieten, mit mitreißender Musik, mit Songs, die Schönheit aus Verletzungen generieren. Die Strahlkraft dieser Kunst ist beträchtlich und wirkt dabei herrlich unangestrengt. Das dahingegangene deutsche Magazin Spex warb einst damit, über "Musik zur Zeit" zu berichten. Die von Self Esteem ist so eine. (Karl Fluch, 12.11.2021)