Eines der berühmten Automatenporträts von Ludwig Wittgenstein.

Foto: Leopold Museum/Manfred Thumberger

Der Einstieg in die Ausstellung ist herausfordernd. In der Mitte des großen Raums im Untergeschoß des Leopold-Museums liegt in einer Vitrine das berühmte Kompositporträt der Geschwister Wittgenstein. Es misst gerade einmal wenige Zentimeter, und doch ist es jenes Wittgenstein-Foto, das zu besonders vielen Spekulationen geführt hat. Kompositporträt bedeutet, dass in einer Teilbelichtung mehrere Fotos der Geschwister jeweils auf eine gemeinsame Negativplatte abfotografiert wurden.

Das Gemeinsame – oder, um mit einem Wort aus Wittgensteins Spätphilosophie zu sprechen, die "Familienähnlichkeit" – wird so in einem Bild sichtbar, das Individuelle erscheint verwischt. An den Wänden rund um die Vitrine: großformatige Fotografien von Katharina Sieverding, Thomas Ruff oder Trevor Paglen. Allesamt verschwommene Gesichter, überblendete Porträts, Phantombilder.

Mit den Fotos von Ludwig Wittgenstein haben diese zeitgenössischen Fotografien weder etwas zu tun, noch beziehen sie sich darauf. Und doch stellen sie so etwas wie einen Resonanzraum jener Überlegungen dar, die der Wiener Philosoph über die Fotografie angestellt hat. Inwieweit darf man Fotos trauen? Welche Wirklichkeit stellen sie dar? Und liegt vielleicht gerade in der Unschärfe eines Fotos sein Wesensgehalt? Als jemand, der der Sprache misstraute und zu Lebzeiten nur ein Werk veröffentlichte, den Tractatus logico-philosophicus, kennt man Wittgenstein, als jemand, der sich medientheoretisch und epistemologisch mit Fotografie beschäftigte, kaum.

Kunstseminar

Die von Verena Gamper und Gregor Schmoll mit langem Vorlauf konzipierte Schau Ludwig Wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis, setzt dem eine Bild- und Gedankenreise entgegen, die – hat man ihr Prinzip einmal verstanden – genauso überraschend wie anregend ist. Eine Ausstellung als Kunst- und Philosophieseminar – mit vielen Drehungen und Windungen.

Über neun ganz ähnlich aufgebaute Räume erstreckt sich die Schau, inklusive eines Raums, der der intensiven Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie durch die Familie Wittgenstein gewidmet ist. Die Fotografin Madame d’Ora (Dora Kallmus) war eine Verwandte von Ludwigs Mutter, der Kunstfotograf Moriz Nähr gehörte zum engen Freundeskreis der Familie. Die Beschäftigung mit Fotografie durchzieht von klein auf das Leben Wittgensteins, gleichwohl Aufnahmen des Philosophen überschaubar sind. Da sind natürlich die Automatenporträts oder die berühmte Aufnahme von Nähr, die in ihrer Schlichtheit der Fotopraxis des Klimt-Porträtisten widerspricht. Es war Ludwig Wittgenstein selbst, der auch bei Porträts von Familienmitgliedern oder von Angestellten auf dem Jagdsitz der Familie auf der Hochreith größtmögliche Reduktion einforderte. In einem Brief an einen Freund kündigte er gar "einen Laokoon für Photographen" aus seiner Feder an.

Im Geiste Lessings

Wie diese Fototheorie im Geiste Lessings ausgesehen hätte, darüber kann ähnlich ausgiebig spekuliert werden wie über jenes kleine Schreibbuch, in das Wittgenstein ohne jegliche Kommentierung 102 Fotos von Familienszenen, Landschaften und Architekturen eingeklebt hat. Prominent kommt darin das bekannte Wohnhaus für Schwester Margarete in der Wiener Kundmanngasse vor, das Wittgenstein zusammen mit Paul Engelmann konzipiert hat. Die "Arbeit an der Philosophie" verglich Wittgenstein Jahre später mit der "Arbeit in der Architektur": Sie sei wie die "Arbeit an einem selbst". Eine Aussage, die sich auch auf Wittgensteins Beschäftigung mit der Fotografie übertragen ließe, die immer neue methodische Denkräume eröffnet.

Die in der Ausstellung flankierend präsentierte Kunst – von Vito Acconci bis Heimo Zobernig – greift Wittgensteins Bildforschungen und Gedankensprünge auf. Hut ab vor diesem mutigen kuratorischen Ansatz, der am Ende zwar etwas verwässert wird, dessen spielerischer Charakter aber wohl auch dem großen Philosophen gefallen hätte. (Stephan Hilpold, 19.11.2021)