Ich stehe auf Kontaktanzeigen. Dabei ist es mir einerlei, ob er sie sucht oder sie ihn oder er ihn oder sie sie. Selbst habe ich noch nie eine solche Anzeige aufgegeben. Initialzündungen für amouröse Kapitel meines Lebens haben sich anders angebahnt. Sie wissen schon, Zettelchen zustecken, eine Einladung zum Bananensplit, eine lange, kalte Fahrt auf dem Skilift.

Selbst ein saftiger Zusammenstoß à la Notting Hill ist meinem Herzen schon untergekommen. Mittlerweile lebe ich mit meiner Liebsten samt dickem Kater glücklich und schnurrend gemeinsam unter einem Dach. Ich habe sie bei einem Interview kennengelernt.

Mich interessieren Kontaktanzeigen, diese kleinen altmodisch anmutenden Begegnungszonen, aus einem anderen Grund. Sie sind mir kurze Unterhaltungsstücke, die kleine Filmchen vor meinem geistigen Auge ablaufen lassen.

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Viele Zuschriften wünscht sich wohl jeder, der eine Kontaktanzeige aufgibt. Der Wortlaut sollte freilich wohl-überlegt sein.
Foto: Getty Images / Illustration: Tobias Burger

Wäre ich Schriftsteller, ich wüsste, wo ich meinen Stoff bezöge. Nicht aus Archiven, nicht aus Bars, nicht aus dem Gerichtssaal oder aufgrund meiner Beobachtungen während einer Seereise über den Atlantik. Es wären Kontaktanzeigen, diese kleinen mehr oder weniger geistreichen Textchen, in denen Glaube, Schicksal und Hoffnung stecken und das Zeug zum Drama haust.

Fantasie

Von der Methodik, man verzeihe den an Größenwahn grenzenden Vergleich, fällt mir an dieser Stelle Marcel Proust ein, der sich laut seinem Schriftstellerkollegen Lucien Daudet mit Sorgfalt der Lektüre von Zeitungen hingab und in seiner Fantasie selbst Kurzmeldungen über umstürzende Pferdekutschen Raum für einen großen Roman ließ.

Einmal kam mir folgende Anzeige unter die Augen: "Am wunderschönen Chiemsee (...) eine überaus charmante Witwe, Mitte 50/163, die niemals zu haben wäre, wenn es das Schicksal nicht so gewollt hätte". Also vor meinem Auge taucht eine bayrische Dolly Parton in einem Chanel-Kostüm mit Hahnentrittmuster auf. Ihre dreigeschoßige in Schönbrunngelb gehaltene Villa am See steht fett unter einem Mansardendach mit neubarockem Ziergibel, die Auffahrt ist von Trauerweiden gesäumt, in der Garage parkt ein moosgrüner Bentley Mulsanne, Baujahr 1983, der abgestaubt gehört. Doch warum ließ es das Schicksal zu, dass sie wieder zu haben ist? Sie, die nach Shalimar von Yves Saint Laurent duftet, Callas in der Badewanne hört und morgens am See einem Zwergrauhaardackel namens Hexi Stöckchen schmeißt.

Musenkuss

Kam ihr Mann bei einer Bergtour auf den Kilimandscharo ums Leben? Hat sie ihn, nachdem er sie mit ihrem Fitnesstrainer betrog, gar beseitigt und mit einem Rasenmäher um den Hals im See entsorgt? Oder doch in der Badewanne in Säure aufgelöst? Und was heißt "überaus" charmant? Wodurch zeichnet sich ihre Liebenswürdigkeit aus? Durch Esprit, Humor, oder erkor sie es als ein Codewort für ein ungestümes leidenschaftliches Wesen aus, das schon bei einem ersten Rendezvous wie ein Vulkan aus ihr bricht?

Wie viel Geld mag sie auf dem Konto liegen haben? In welche Aktien hat sie investiert, oder ist sie gar pleite und sucht verzweifelt nach einer guten Partie, um nicht in eine ebenerdige Wohnung in die Münchner Vorstadt übersiedeln zu müssen? Fürchtet sie sich vor galanten Tantentäuschern, die ihr aufgrund ihrer Anzeige gar nach dem Vermögen oder mehr trachten?

Man sieht, allein diese paar Worte einer kleinen Anzeige reichen als Musenkuss für einen Roman à la Rosamunde Pilcher, ein Sozialdrama, eine Mördergeschichte oder vielleicht sogar einen Erotikthriller. Die Entscheidung liegt in der Fantasie des Betrachters, Pardon, Lesers.

Fragen an das Schicksal

Diese Ideensammlung, so kitschig schwülstig sie auch sein mag, unterhält den Kontaktanzeigen-Junkie. Da würde ein Tinder-Bild à la Wisch- und-weg niemals mithalten können. Tinder und Co könnten mich maximal zu einem Werbespot für Bodywaxing, Wimpernzangen oder Fitnessstudios inspirieren. Freilich existieren auch unter Kontaktanzeigen Inserate, die weniger literaturtauglich sind, zum Beispiel: "Dozentin 70+ sucht lieben Akademiker". In diesem Falle dürfte selbst bei einem Proust die Feder trocken bleiben.

Dabei geht die Lektüre von Kontaktanzeigen weit über sprudelnde Inspirationsquellen hinaus. Sie lässt auch theoretische Fragen an das Schicksal und Spekulationen über die auf der Suche befindlichen Leser und Leserinnen solcher Anzeigen zu, wenn zum Beispiel eine angeblich empathische, sportliche Lehrerin und Mutter eines kleinen Jungen schreibt, sie wünsche sich Schmetterlinge im Bauch, wobei der Verursacher dieser bittschön zwischen 45 und 52 Jahre alt sein möge. Was nun, wenn bei einem kontaktfreudigen Leser gerade bei dieser Anzeige die Liebe hinfällt, dieser bereits die Kokons für die Schmetterlinge spinnt, er aber erst 43 oder gar schon 54 Lenze zählt?

Wird er es trotzdem wagen oder sich zögernd im Bett hin und her wälzen auf der Suche nach Mut oder sein Herz doch lieber jener studierten 53-jährigen Dame schenken, die sich folgendermaßen inseriert: "Vielseitig interessierte Mimose, die über sich selbst lachen kann und einen Cappuccino in der Sonne genießen will".

Gegen Einschlafstörungen

Man sieht wohl, das Lesen von Kontaktanzeigen birgt so manche Schicksalsfrage in sich. Man muss ja nicht gleich einen Roman schreiben. Die Konsumation derlei Miniatürchen eignet sich auch für Menschen, die an Einschlafstörungen leiden und des Schäfchenzählens müde sind oder aufgrund einer Störung des Internets auf Netflix verzichten müssen.

Man unternehme einfach mal die Probe aufs Exempel, vielleicht mit diesem zugegebenermaßen etwas kryptischen, aber doch originellen Offert für Fortgeschrittene: "Emanze sucht Macho: Du bist flexibel wie Drahtseile, hast mit Frauen (außer Deiner Mutter) schon alles erlebt, was brauchbar ist, und kannst schneller um drei Ecken denken, als ich auf dem Baum bin".

Marcel Proust las übrigens, wenn man seinem Freund Maurice Duplay Glauben schenken darf, bei Einschlafschwierigkeiten am liebsten Eisenbahnfahrpläne. (Michael Hausenblas, RONDO exklusiv, 26.12.2021)