Der Stajnia-Anhänger ist beiderseits mit einem Muster aus mindestens 50 Punkten verziert, die eine unregelmäßige Schleife bilden.
Foto: Antonino Vazzana - BONES Lab

Wann genau die ersten Schmuckstücke und Kunstwerke gefertigt wurden, lässt sich schon allein wegen der spärlichen Auswahl an Funden kaum mit Sicherheit festmachen. Archäologen entdeckten in Nordafrika 100.000 Jahre alte Muscheln mit Bohrlöchern, die auf eine Verwendung als Kette hindeuten. Als älteste bekannte bewusst gestaltete Kunstwerke gelten rund 77.000 Jahre alte Ockerstücke mit eingeritztem Muster aus Südafrika. Die ältesten Kunstwerke aus Europa und Asien sind rund 40.000 Jahre alt, darunter etwa der berühmte Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel oder die Venus vom Hohlefels.

Ein bei archäologischen Ausgrabungen in der Stajnia-Höhle in Südpolen freigelegter Gegenstand könnte der Venus und dem Löwenmenschen allerdings nun den Rang ablaufen. Das rund viereinhalb Zentimeter lange Elfenbeinstück war 2010 zwischen Tierknochen und einigen Steinwerkzeugen aus dem Jungpaläolithikum entdeckt worden. Dass es sich um ein Schmuckstück handelt, darauf weisen ein Loch und ein Ornament aus mindestens 50 eingravierten Punkten hin, die eine unregelmäßige Schleife bilden. Ein internationales Team hat nun den mutmaßlichen Anhänger genauer unter die Lupe genommen. Die Radiokarbondatierung ergab ein sensationelles Alter von etwa 41.500 Jahren. Das macht den Fund zumindest zum ältesten bekannten verzierten Gegenstand Eurasiens.

Luftaufnahme der Stajnia-Höhle im Süden Polens.
Foto: Marcin Żarski

Neuer Dekor

Nach ihrer Ausbreitung in Mittel- und Westeuropa vor gut 42.000 Jahren begannen Homo-sapiens-Gruppen, Mammutstoßzähne für die Herstellung von Anhängern und Gegenständen wie geschnitzten Statuetten zu bearbeiten und gelegentlich mit geometrischen Motiven zu verzieren. Neben Linien, Kreuzen und Rauten tauchte bei einigen Mustern in Südwestfrankreich und Figuren aus der Schwäbischen Alb eine neue Verzierungsart auf – die Aneinanderreihung von Punkten.

Die meisten dieser dekorierten Gegenstände wurden bei früheren Ausgrabungsarbeiten entdeckt, und ihre chronologische Zuordnung ist nach wie vor nicht gesichert. Daher blieben Fragen offen hinsichtlich der Entstehung von Körperschmuck und der Verbreitung mobiler Kunst in Europa. Das Elfenbeinartefakt aus der Stajnia-Höhle könnte nun einige Antworten liefern.

Mikrotomografische Scans

"Diese Arbeit zeigt, dass wir mit den jüngsten methodologischen Fortschritten bei der Radiokarbondatierung nicht nur den Umfang der Probennahme minimieren, sondern auch hochpräzise Daten mit einem sehr geringen Fehlerbereich erzielen können", sagt Sahra Talamo, Erstautorin der im Fachjournal "Scientific Reports" veröffentlichten Studie von der Universität Bologna. Die Untersuchung des Anhängers und einer in ihrem Umfeld gefundenen Knochenahle wurde zusätzlich mit digitalen Methoden durchgeführt, ausgehend von mikrotomografischen Scans der Funde.

Das zusammengefügte Fragment ist rund 4,5 Zentimeter lang und 3,7 Millimeter dick.
Fotos: Antonino Vazzana - BONES Lab

Bisherige archäologische Fundstücke aus der Höhle lassen vermuten, dass sie Neandertalern und Homo-sapiens-Gruppen für mehrere kurze Zeitperioden als Aufenthaltsort diente. Der Anhänger ging möglicherweise zu Bruch, als die Gruppe in der Kraków-Częstochowa-Hochebene auf der Jagd war, und wurde anschließend entsorgt. "Dieses Schmuckstück zeugt von der großen Kreativität und den außergewöhnlichen handwerklichen Fähigkeiten der Mitglieder einer Homo-sapiens-Gruppe, die den Fundort bewohnte", sagt Koautorin Wioletta Nowaczewska von der Universität Wrocław. Die Dicke der Platte beträgt etwa 3,7 Millimeter – beim Schnitzen der Punkte und der Tragelöcher des Anhängers wurde mit einer erstaunlichen Präzision vorgegangen.

Ornamente mit Bedeutung?

Ob die dargestellte Schleife eine Bedeutung hat, und wenn ja, welche, bleibt vorerst ungelöst. Vielleicht verweist sie auf ein Mondanalemma (eine Schleife, die der Mond im Laufe eines Monat am Himmel beschreibt, Anm.) – oder die Punkte geben eine Zählung von bei der Jagd erlegten Tieren wieder. Es sei jedenfalls faszinierend, dass ähnliche Verzierungen unabhängig voneinander in ganz Europa auftraten, so die Forschenden. Darüber hinaus zeigen der Elfenbeinanhänger und die Knochenahle, dass die Ausbreitung des Homo sapiens auf dem Gebiet des heutigen Polen zu einem genauso frühen Zeitpunkt stattgefunden hat wie in Mittel- und Westeuropa.

"Dieses bemerkenswerte Ergebnis verändert unseren Blick auf die Anpassungsfähigkeit dieser frühen Gruppen und stellt das monozentrische Verbreitungsmodell künstlerischer Innovation während der Aurignacien-Kultur infrage", sagt Koautor Andrea Picin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. (tberg, red, 29.11.2021)

Hinweis

Es wurden Vorbehalte gegenüber der Forschungsarbeit geäußert, die derzeit geprüft werden.