Der US-amerikanische Politikwissenschafter Ahmet Kuru, Professor an der San Diego State University, stellt in seinem 2019 veröffentlichten Buch „Islam, Authoritarianism and Underdevelopment“  eine grundsätzliche kritische Anfrage an Entwicklungen innerhalb der islamischen Welt. Sein Hauptargument zielt auf die zu enge Verbindung zwischen staatlichen Institutionen und muslimischen Gelehrten (die im Folgenden mit dem arabischen Begriff Ulema bezeichnet werden) ab. Dabei zeigt er in seinem Buch, dass diese Entwicklung zum einen historische Ursachen hat und zum zweiten nicht unumkehrbar ist. Er weist damit einen möglichen Weg aus den vielen Fehlentwicklungen, die sich in der islamischen Welt insbesondere in den letzten beiden Jahrhunderten ergeben haben. Lesen Sie im folgenden eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen seines Buches durch den Autor selbst.

Die Allianz zwischen muslimischen Gelehrten und Staat behindert Demokratie und Entwicklung in der islamischen Welt

Im September 2021 wurde das Turkevi Center (Zentrum türkischer Kultur) in New York mit einer hochrangigen Staatszeremonie eröffnet; mit dabei war auch Präsident Tayyip Erdogan. Eingeleitet wurde die Zeremonie mit einem Gebet, vorgetragen vom obersten Geistlichen der Türkei, nämlich vom Präsidenten der türkischen Religionsbehörde, der 80.000 Moscheen unter sich vereint. Dieser wachsende politische Einfluss des obersten Geistlichen in der Türkei symbolisiert die immer größere werdende Allianz zwischen muslimischen Geistlichen und dem Erdogan-Regime.

Für über ein Jahrhundert war die Türkei ein Musterbeispiel für einen säkularen Staat mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung. Doch auch hier wurde in den letzten Jahren die Verbindung zwischen den Geistlichen und dem Staat immer stärker. Währenddessen haben in Afghanistan die Taliban, eine Organisation, die explizit von muslimischen Geistlichen geleitet wird, die volle Macht zurückerlangt. Dort ist die Ulema nicht „nur“ Alliierte des Staates, sondern sie ist selbst „der Staat“, indem sie die Macht über Exekutive, Legislative und Judikative in der Hand hat.

Es gibt weltweit fünfzig Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung. Von diesen hat die Türkei in ihrer jüngeren Geschichte am meisten Erfahrung als säkularer Staat, während Afghanistan zurzeit die stärkste theokratische Erfahrung hat (mit dem Iran). In vielen anderen Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung gibt es unterschiedliche Arten dieses Wechselverhältnisses von Ulema und Staat. Was diese verschiedenen Allianzen jedoch alle vereint, ist das Abbremsen von Demokratisierungsprozessen und Entwicklungsbemühungen.

Im September wurde das Turkevi Center in New York eröffnet.
Foto: REUTERS/MURAT CETINMUHURDAR/PPO

Weder Islam, noch westlicher Kolonialismus

Von den fünfzig Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung sind nur sieben „Wahldemokratien“, das heißt repräsentative Demokratien mit fairen und freien Wahlen. Zudem weisen die Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung im Vergleich zum globalen Durchschnitt einen geringeren Grad an Entwicklung im Hinblick auf sozioökonomischen Kriterien wie das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Lebenserwartung und Schulzeit auf. Viele muslimische Länder sind in einem Teufelskreis von Autoritarismus und Unterentwicklung verstrickt.

Die gegenwärtigen Herausforderungen in den muslimischen Ländern sind umso unverständlicher, wenn man die sozio-ökonomischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der frühen Geschichte betrachtet. Im Vergleich zum westlichen Europa war die muslimische Welt zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert viel weiterentwickelt: so befanden sich viele der größten Städte und der einflussreichsten und führenden Philosophen dieser Zeit innerhalb der muslimischen Welt.

Was erklärt aber nun diese Lücke zwischen der frühen Blüte und der gegenwärtigen Krise? Grundsätzlich gibt es zwei weitverbreitete Antworten auf diese Frage: der Islam an sich und/oder der westliche Kolonialismus sind die Ursachen für die Krise innerhalb der muslimischen Welt. Beide sind jedoch nicht hilfreich, da sie vieles nicht berücksichtigen.

Den Islam an sich als Erklärung für diese Lücke herzunehmen, übersieht die wissenschaftlichen und sozioökonomischen Errungenschaften der frühen Geschichte. Muslimische Gesellschaften waren sehr dynamisch und es gab eine Vielzahl intellektueller und wirtschaftlicher Akteure, die ein philosophisches und ökonomisches goldenes Zeitalter etablierten. Muslimische Universalgelehrte verfassten wegweisende wissenschaftliche Beiträge in der Mathematik, Optik und Medizin. Es waren Muslime, die den Europäern bestimmte Finanzinstrumente aufzeigten und die Herstellung von Papier initiierten.

Den Kolonialismus des Westens als Erklärung für diese Lücke herzunehmen, zeigt sich auch als problematisch. Die wissenschaftliche und wirtschaftliche Stagnation innerhalb der muslimischen Welt begann bereits vor der großflächigen Kolonialisierung im 18. Jahrhundert. Des Weiteren zeigen die Entwicklungs- und Demokratisierungsprozesse in verschiedenen postkolonialen, nicht-muslimischen Ländern in Asien und Lateinamerika, dass Fortschritt auch trotz kolonialer Vergangenheit möglich ist.

Die Allianz zwischen Ulema und Staat

Die Hauptursache dieses Teufelskreises von Autoritarismus und Unterentwicklung in den muslimischen Gesellschaften ist das, was ich in meinem Buch die „Allianz zwischen Ulema und Staat“ nenne.

Zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert kooperierten Muslime, die zu unterschiedlichen theologischen Schulen gehörten, mit Christen, Juden und anderen zusammen und etablierten so das goldene Zeitalter. In dieser Zeit gab es bis zu einem gewissen Grad eine Trennung zwischen dem Staat und der Ulema. Die überwiegende Mehrheit der Ulema arbeitete nämlich im privaten Handel. Diese historische Tatsache widerlegt das weitverbreitete Klischee, dass der Islam an sich die Trennung von Religion und Staat ablehnt.

Jedoch kam ab Mitte des 11. Jahrhunderts die Allianz zwischen Ulema und Staat zum Vorschein. Dadurch wurden unabhängige Denker und Unternehmer Schritt für Schritt an den Rand gedrängt und all das führte zur intellektuellen und wirtschaftlichen Stagnation der muslimischen Welt. Während des 19. Jahrhunderts haben reformorientierte Herrscher diese Allianz mit der Ulema geschwächt und im frühen 20. Jahrhundert, waren beinahe alle Staatsoberhäupter der muslimischen Welt säkular orientiert. Diese reformistischen und säkularen Machthaber hatten aber ein gemeinsames Problem: sie waren zu staatszentriert. Anstatt die Etablierung von dynamischen intellektuellen und wirtschaftlichen Akteuren voranzutreiben, dehnten sie den Machtbereich des Militärs und der zivilen Bürokraten über die Politik und Wirtschaft aus.

Die verfehlten Maßnahmen der säkularen Machthaber verhalfen schließlich der Ulema und den Islamisten seit den 1970er-Jahren zum Aufstieg. Seit einem halben Jahrhundert erleben viele muslimische Länder wie Iran, Pakistan, Ägypten und Türkei die Islamisierung als soziales, politisches und legislatives Projekt. Dies hat zudem zur Wiederbelebung dieser Allianz geführt.

Erdöl hat die Allianz zwischen Ulema und Staat noch befördert

Nach der Erdölkrise 1973 haben vor allem die Golfstaaten begonnen, Allianzen zwischen Ulema und Staat zu Hause und islamistische Bewegungen im Ausland zu fördern. Viele Staaten, in denen solche Ulema-Staat-Allianzen bestehen, haben Blasphemie und Apostasie-Gesetze erlassen, die abweichende Meinungen im Zusammenhang mit religiösen und politischen Anschauungen unter Strafe stellen. Zudem wenden sie auch restriktive und ineffiziente Methoden in der Wirtschaftspolitik an: So ist beispielsweise die Beschlagnahmung von Privateigentum ein sehr verbreitetes Instrument, um einerseits die Wirtschaft zu kontrollieren und andrerseits die Opposition zu bestrafen.

Wie kann man im Anbetracht dieser dauerhaft anhaltenden Strukturen die Zukunft umgestalten? In einem kürzlich veröffentlichten Bericht argumentiere ich dahingehend, dass das Abbauen dieser Ulema-Staat-Allianz und die Umstrukturierung der (Volks-)Wirtschaft entscheidende Faktoren sind, um Entwicklungs- und Demokratisierungsprozesse voranzutreiben.

Eine Reform ist notwendig und unabwendbar

Muslimische Gesellschaften sollten auf der diskursiven Ebene jahrhundertealte Anti-Intellektualismen und die Kontrolle des Staates über die Wirtschaft infrage stellen, anstatt ausschließlich den Islam an sich oder den westlichen Kolonialismus dafür verantwortlich zu machen. Nur durch kritische Selbstreflexion können muslimische Gesellschaften sich mit ihren politischen und sozioökonomischen Problemen (auch wirklich) auseinandersetzen. So wie es auch im Koran heißt: „Siehe, Gott ändert an einem Volke nichts, ehe sie nicht ändern, was in ihnen drinnen ist.“ (Q:13, 11)

Auf der institutionellen Ebene brauchen muslimische Gesellschaften ein offenes, leistungs- und wettbewerbsorientiertes System, in dem politische, religiöse, intellektuelle und wirtschaftliche Akteure, unabhängig voneinander handeln können. Damit aber solche Reformen durchgesetzt werden können, braucht es die institutionalisierte Trennung von Staat und Religion. Ein Blick in die frühe Geschichte des Islams zeigt, dass es bereits eine gewisse Trennung von staatlichen und religiösen Autoritäten gab und somit der Islam an sich dem nicht entgegensteht.

Es braucht aber auch Reformen der Meinungs- und Gedankenfreiheit: So müssen beispielsweise Blasphemie- und Apostasie-Gesetze abgeschafft werden. Es braucht auch einen besseren Schutz des Privateigentums, um staatliche Beschlagnahmungen zu vermeiden. Es gibt zudem einen starken wirtschaftlichen Anreiz für Reformen. Die Erdöleinnahmen, die die Ulema-Staat-Allianzen finanziert und unterstützt haben, gehen aufgrund von der Erschöpfung der Reserven und wegen des Umstieges auf erneuerbaren Energien langsam aus. Um in der Post-Erdöl-Ära zu bestehen, werden viele muslimische Länder wirtschaftliche Transformationsprozesse durchlaufen müssen. 

Eine Neuinterpretation der Geschichte ist wichtig, um solche Reformen zu ermöglichen. Diese Allianz zwischen Ulema und Staat, die ein Hauptgrund für die Stagnation der muslimischen Welt ist, hat nämlich tiefe geschichtliche Wurzeln. Nichtsdestotrotz gab es in der muslimischen Geschichte aber auch Erfahrungen mit grundlegenden Paradigmenwechseln, die zukünftige Reformen im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Staat und Religion und der Wirtschaft inspirieren können. (Ahmet Kuru, Franz Winter, Übersetzung aus dem Englischen: Robert DiMaggio, 9.12.2021)

Ahmet Kuru ist Professor für Politikwissenschaft an der San Diego State University.

Der Artikel erschien zuerst auf Englisch auf "The New Arab".

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