Die universitäre Lehre wurde und wird durch die Pandemie stark eingeschränkt. Als eine von zwei neuen Professorinnen am Wiener Institut für Sprachkunst entwickelte Gerhild Steinbuch auch hybride Modelle. Sabine Scholl, die das Institut vor vielen Jahren mitgegründet hatte, traf Gerhild Steinbuch zum Gespräch im Institutsgebäude am Salzgries, über den Dächern von Wien.

Gerhild Steinbuch: "Diese Achtsamkeit in der Ausbildung nicht durch Konkurrenzdruck kaputtmachen!"
Foto: Heribert Corn www.corn.at

STANDARD: Welche Erfahrungen wurden während der Corona-Pandemie mit hybriden Formen der Lehre gemacht?

Gerhild Steinbuch: Erst war es eine Herausforderung. Dann fanden wir einen spielerischen Zugang mit gemeinsam improvisierten Methoden. Bemerkenswert war, wie die Studierenden aufeinander geachtet haben, sodass trotzdem Gemeinschaft entstanden ist.

STANDARD: Manche waren präsent und andere gleichzeitig am Bildschirm mit dabei?

Steinbuch: Es gab unterschiedliche Modelle: Einzelunterricht fand in Präsenz, künstlerischer Unterricht in größeren Gruppen im Hybridmodus oder als Mischung aus Zoom- und Präsenzterminen statt. Das war ein kollektiver Lernprozess, eine Übung in Gemeinschaftlichkeit, und gerade deshalb fruchtbar, weil sich der Literaturbetrieb oft noch als Ellbogenbetrieb versteht. Man lernte, Grenzen wahrzunehmen, den anderen Respekt entgegenzubringen, vielleicht sogar mal andere wichtiger zu nehmen als sich selbst.

STANDARD: Geht das in Richtung des erweiterten Autorenbegriffs, für den das Institut sich einsetzt?

Steinbuch: Dieses Bild eines Autors, der in seinem Kämmerlein sitzt und aus sich heraus das große Werk produziert, ist eine männliche weiße Fiktion. Die Realität sieht anders aus. Viele Kolleginnen, wie auch Monika Rinck und ich, arbeiten als Autorinnen nicht monodisziplinär, sondern in unterschiedlichen Formaten und Konstellationen, was der eigenen Arbeit sehr zuträglich ist, weil es den Horizont erweitert. Wir wollen den Studierenden vermitteln: je größer der Werkzeugkasten, desto größer die Möglichkeiten, sich künstlerisch zu Gesellschaft und Welt in Bezug zu setzen. Dieses Berufsbild ist zum einen realistischer, vor allem aber interessanter als eine in sich geschlossene Autorenschaft.

STANDARD: Diese Vorstellung des einsamen Genies ist mittlerweile überkommen?

Steinbuch: Natürlich gibt es Studierende, die für sich arbeiten, das ist auch wichtig. Ich meine eher, dass es diese Idee gibt, dass Autorinnensein nur genauso sein darf, dass andere Arbeitspraxen keine Berechtigung haben und dass diese Fiktion nur so lange aufrechterhalten werden konnte, weil andere unsichtbar Carearbeiten erledigt haben.

STANDARD: Also eigentlich gab es kollektive Autorinnenschaft bereits, nur wurde sie verheimlicht. Wie kann gemeinschaftliches Arbeiten heute funktionieren?

Steinbuch: Wir haben einige Studierende, die im Kollektiv arbeiten und eine gemeinsame Schreibpraxis entwickelt haben. Sie verfassen vor allem dramatische Texte, Theater oder Hörspiel. Dazu ist wichtig, aufeinander zu achten, zu begreifen, dass es nichts Schlechtes ist, den anderen zu Wort kommen zu lassen, dass dieses ausschließlich aus sich selbst Herausschöpfen ohnehin eine Fiktion war. Wenn aber Studierende sagen, ich nehme diese Erfahrungen mit und schreibe einen Text für mich allein, ist das in Ordnung. Kollektives Schreiben heißt nicht nur, dass alle an einem Text arbeiten, sondern heißt anzuerkennen, dass andere Menschen am Text mitgedacht haben, sei es durch Feedback, Gespräche oder Lektüre, die einen beeinflusst hat.

STANDARD: Der kreative Prozess ist von Gesprächen mit anderen, von Resonanz geprägt. Ist digitales Kommunizieren dabei hilfreich?

Steinbuch: Das Kommunizieren oder auch Veröffentlichen über digitale Medien ermöglicht die Sichtbarmachung von Texten an den Schranken des lange Zeit weiß, männlich dominierten Literaturbetriebs vorbei, der, wenn überhaupt, andere Erzählungen nur in einer bestimmten Form zulässt. Da ist dann die Veröffentlichung im digitalen Raum eine Chance, zur Sprache zu finden, direkter zu reagieren, wobei alles natürlich schnell im Markt aufgeht. Deshalb würde ich nicht trennen, sondern anregen, neue Formen zu finden, die immer auch hybrid sind.

STANDARD: Was aber erwarten Studierende von ihrem Eintritt in das Feld der Literatur?

Steinbuch: Hilfreicher ist vielleicht, darüber zu sprechen, welches Bild vom Literatur- oder Theaterbetrieb wir nicht vermitteln möchten. Was für ein Raum wir nicht sein wollen. Uns ist wichtig, vonseiten der Lehre ein größeres Spektrum zu bieten, das unterschiedliche Lebensrealitäten repräsentiert und nicht bei weißen, bürgerlichen Stimmen endet. Wichtig für angehende Autorinnen ist es, einen Austausch mit Kolleginnen unterschiedlicher Backgrounds zu haben, die sie beim Schreiben und Entwickeln der eigenen Form unterstützen. Dabei geht es weniger um das Sprechen über die eigene Biografie als darum, dass Literatur von Formvielfalt lebt, die aber auch in der Vielfalt gelehrt werden muss.

STANDARD: Also die Klassismusfrage, die Schwierigkeit von prekär Aufgewachsenen, in einen akademischen oder Kunstkontext einzutreten, die unsichtbaren Hürden dort zu bewältigen.

Steinbuch: Auch mit dem Kanon konfrontiert zu werden, der ja schon eine koloniale Erzählung ist. Aber das hinterfragt man erst mal nicht, wenn einem dieser im Bücherregal, als Leseliste gegenübergestellt wird. Die meisten Menschen, die den Kanon hochhalten, haben links und rechts von Mitteleuropa und USA meist nichts gelesen.

Gerhild Steinbuch sieht die Literatur als gemeinschaftlichen Ort.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

STANDARD: Warum wird in den letzten Jahren vermehrt über die Frage des Kanons diskutiert?

Steinbuch: Es gab immer Stimmen gegen diesen Kanon, mittlerweile aber sitzen Menschen in entscheidenden Positionen, die diese Erzählung offensiv hinterfragen. Man sollte Banden und Allianzen bilden, um von dem, was ohnehin eine Minderheitserzählung war, abzurücken. Immer in der eigenen Suppe zu kochen macht keine guten Texte, kein gutes Leben, keinen guten Blick auf die Welt, sondern macht stumpf.

STANDARD: Der Kanon war ein Machtinstrument, um ab- und auszugrenzen. Er behauptet, wenn du dieses oder jenes Buch nicht gelesen hast, hast du keine Ahnung von Literatur.

Steinbuch: Und du hast die Sprache nicht, du kannst dich nicht äußern.

STANDARD: Das heißt, dass die Arbeit mit Sprache eine gesellschaftsbildende Komponente enthält.

Steinbuch: Eine Position, in der man sich von der Welt fernhält, muss man sich leisten können.

STANDARD: Also die Position mancher Avantgarden, Konkrete Poesie, Wiener Gruppe etc., obwohl die ursprünglich sehr wohl politische Sprengkraft hatten.

Steinbuch: Situationismus war zu seiner Zeit sicherlich eine richtige Strategie, ist mittlerweile aber in der Werbung angekommen. Damit möchte ich keine künstlerische Praxis diskreditieren, sondern mich gegen die Behauptung permanenter Gültigkeit aussprechen. Das Spannende an jeder Art von Kunst ist doch das Flüchtige, Unplanbare, das Prozesshafte, das man nur im Austausch mit anderen in Gang halten kann.

STANDARD: Während eine neue Generation von Dichterinnen nun durchaus Politik und Sprachkunst zusammenbringt.

Steinbuch: Von Vertretern der Avantgarde wird bei neueren Stimmen öfter angemahnt, dass sie Gebrauchstexte machen würden. Oder es gibt den Vorwurf, sie schrieben der Welt hinterher, das habe keinen literarischen Wert. Sich mit den Zuständen in der Welt zu beschäftigen, bedeutet aber nicht, keinen Formwillen zu haben. Das schließt sich nicht aus. Natürlich ist es wichtig, Traditionslinien zu kennen, aber den Schritt zurück macht schon die politische Landschaft, den muss die Kunst nicht mitmachen.

STANDARD: Werden durch die Anbindung des Instituts für Sprachkunst an eine Kunstuniversität Kooperationen mit anderen Disziplinen möglich?

Steinbuch: Austausch ist wichtig, es gibt viele Möglichkeiten, Text in ein anderes Medium zu übersetzen, Text in Raum, in Bild, in eine andere Form von Dramaturgie, sei es visuell, sei es musikalisch. Das ist an einer Universität wie der Angewandten gut zu realisieren. Wir kooperieren zum Beispiel mit den Advanced Museum Studies, mit der Bühnenbildklasse. Für das Festival der Angewandten erarbeiten die Studierenden unterschiedliche Projekte wie Comics, Performances, Spielformate.

STANDARD: Wer kann sich für ein Masterstudium, das seit 2020 möglich ist, bewerben?

Steinbuch: Studierende jeglichen Backgrounds, also nicht nur Absolventinnen aus Schreib- oder Kunststudiengängen. Ausschlaggebend ist die literarische Qualität der Arbeiten. Im Sinne des erweiterten Autorinnenbegriffs interessieren uns Perspektiven, die Gesellschaft und Kunst nicht getrennt denken. Im Rahmen des Studiums absolvieren die Studierenden auch ein Praktikum, bei dem wir sie ermutigen, nicht innerhalb des Literaturbetriebs zu bleiben, sondern kunstfremde Institutionen aufzusuchen, zum Beispiel als Rechercheauftrag.

STANDARD: Der Austausch mit anderen Literaturinstituten wird ebenfalls gepflegt?

Steinbuch: Mit dem Szenischen Schreiben an der Udk Berlin ist eine längerfristige Zusammenarbeit, sogar mit Austausch von Lehrenden geplant. Ferner wollen wir Studierende aus beiden Lehrgängen zusammenbringen, auch um das Konkurrenzdenken abzubauen. Wir sind mit dem Lehrgang in Hildesheim über eine Kooperation im Gespräch, haben einen guten Draht zum Literaturinstitut Leipzig und planen zur Buchmesse 2023 ein gemeinsames Projekt. Eigentlich denken wir immer in Perspektiven der Vernetzung, und nicht im Sinne einer Kaderschmiede. So etwas würde mich zu Tode langweilen.

STANDARD: Dieses Denken und Arbeiten in Kollektiven steht den lang üblichen hierarchischen Machtverhältnissen an ausbildenden Institutionen sehr entgegen.

Steinbuch: Wichtig sind uns drei Kernpunkte: die Arbeit am Text als etwas Spielerisches, aber auch Vielfältiges zu denken; ein Interesse für unterschiedliche Formen zu wecken; sowie in kleinen Schritten den Kanon zu diversifizieren, wodurch es auf längere Sicht auch unterschiedlichen Studierenden möglich sein wird, sich in so einer Ausbildung wohlzufühlen oder das Selbstbewusstsein zu entwickeln, da hinzugehören.

STANDARD: Sie würden auch eine Rapperin aus Ottakring aufnehmen?

Steinbuch: Songtexte, Graphic Novels, Performances, Installationen, filmische Arbeiten – all das sind textbasierte Projekte oder können als solche entwickelt werden. Anders als vielleicht in der von uns sehr geschätzten Ausbildung in Leipzig stehen unterschiedlichste textbasierte Projekte im Vordergrund, die Arbeit mit verschiedenen Formaten.

STANDARD: Es gibt ja in Leipzig auch Studierende, die experimentieren wollen, und in Wien welche, die ihren umfangreichen Roman schreiben möchten.

Steinbuch: Genau, man ist keine Konkurrenz, sondern profitiert von gegenseitigem Wissen. Das ist unsere Vorstellung für den Literatur- und Theaterbetrieb der Zukunft. Dass er zu einem gemeinschaftlichen Ort wird.

STANDARD: Solidarität und Austausch gelebt zu haben, gelernt zu haben, sich gegenseitig zu respektieren, ermöglicht dann, sich im praktischen Feld des Literaturbetriebs nicht mehr unbedingt gegenseitig auf die Zehen steigen zu wollen?

Steinbuch: Diesen Eindruck habe ich. Ich bin sehr jung in den Betrieb gekommen und bekam viel Sexismus und Zuschreibungen mit, die es weiterhin gibt, wie ich immer wieder erfahre, was mir unbegreiflich ist, dass Männer meiner Generation das weitertragen. Wobei ich festgestellt habe: Wenn ich laut genug bin, haben alle Respekt vor mir. Daher neige ich in gewissen Kreisen erst mal zum Lautsein und muss mir wieder beibringen, dass es Kontexte gibt, wo das die falsche Strategie ist. Da ist von Studierenden viel zu lernen, wenn ich sehe, wie sie die Bereitschaft zuzuhören selbstverständlicher mitbringen. Das ist Potenzial für einen Betrieb in der Zukunft, in dem ich als junge Autorin auch gern gearbeitet hätte. Deshalb finde ich es entscheidend, diese Achtsamkeit in der Ausbildung nicht durch Konkurrenzdruck kaputtzumachen, sondern zu schützen, zu schärfen und die dafür notwendigen Tools zu vermitteln: Technik, die Möglichkeit zur Vernetzung, aber auch das Wissen über bestimmte Strukturen, die man selbst erlebt hat. Damit die jüngere Generation merkt: Das liegt nicht an mir, wenn etwas schiefläuft, das ist ein strukturelles Problem.

STANDARD: Man kann als Lehrende von den Studierenden gleichermaßen etwas mitnehmen.

Steinbuch: Klar haben Lehrende einen anderen Erfahrungshorizont, aber essenziell ist ein Austausch auf Augenhöhe. Alles andere ist respektlos. Professionelle Abgrenzung besteht einzig darin, kritisch auf Texte zu schauen, aber nicht verachtend auf Menschen zu reagieren. Da hat sich in einer neuen Generation das Bewusstsein, was Lehre ist, verändert.

STANDARD: Weg vom autoritären Gehabe.

Steinbuch: Wer darauf Lust hat, der soll lieber zum Sport gehen oder den Garten umgraben.(Sabine Scholl, ALBUM, 11.12.2021)