Ein Zeichen setzen? Vielleicht mit einer schweigenden Menschenkette.

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Seit einigen Monaten wird so vieles angegriffen, was einem aufgeklärten Menschen lieb und teuer ist. Die Pandemie in Kombination mit der Existenz von Impfungen hat sich zu einer Trennscheibe entwickelt, die sich quer durch Familien, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und – unübersehbar – durch das gesamte soziale Gefüge fräst.

Akut unter Dauerfeuer: die Wissenschaft, die Vernunft, das evidenzbasierte Lernen. Aber auch die Solidarität, die Menschlichkeit, das Mitgefühl. Und die Demokratie und der Rechtsstaat. Besonders perfide: Nach und nach werden Werte und Gedanken radikal in ihr Gegenteil verkehrt und polemisch umgedeutet.

Aus der Demokratie wird die Diktatur, aus den notwendigen Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Ansteckung wird der Holocaust. Wenn ich wütend protestiere, dass man das Schicksal Anne Franks nicht mit den Limits für Ungeimpfte vergleichen darf, weil das einer ungeheuerlichen Verhöhnung von Holocaust-Opfern gleichkommt, wird mir geraten, Geschichte zu studieren. Aus "Wir sind das Volk" wird eine Horde skandierender Barbaren, während ich mich an meine Freudentränen erinnere, als ich im Fernsehen den Fall der Berliner Mauer beobachtete.

Neueste Infamie: Kants Grundmauer der Aufklärung "Sapere aude!" (Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) wird demoliert und zum Kampfruf gegen die Wissenschaft. Als jemand, dem im August 2021 das Vorhofflimmern mit ärztlicher Kunst und aufmerksamer Versorgung genommen wurde, krampfe ich zusammen, wenn Pflegende nach einem aufopfernden Dienst ausgepfiffen und bedroht werden.

Toleranz gegenüber der Intoleranz?

Extreme Erlebnisse bohren sich in die eigene Wahrnehmung: die erste große Corona-Leugner-Demo in Wien. In einer U-Bahn-Station steht ein Elternpaar mit seinem circa zehnjährigen Sohn. Unscheinbar. Mit korrekt sitzenden Masken. Da sagt die Mutter zum Sohn: "Wir gehen jetzt zum Heldenplatz. Dort musst du damit rechnen, dass die Polizei mit Wasserwerfern auf dich schießt." In zehn Jahren ist der junge Mann 20 und ich 73. Wie werden wir einander dann begegnen?

Da denkt unsereiner an Karl Popper und seine Mahnung, dass die Toleranz gegenüber der Intoleranz zum Ende der offenen Gesellschaft führen wird.

Und auch wenn die Lauten nur laut sind und nicht die Mehrheit, so fühlt es sich doch beängstigend an, diese unheimliche Mischung aus Rechtsextremen, Esoterikern, Skeptikern und Bildungsunwilligen in einer so explosiven Mischung zu sehen.

Die schweigende Mehrheit

Es ist höchste Zeit. Höchste Zeit, dass sich die "schweigende Mehrheit" besinnt. Dass ein Zeichen gesetzt wird. Nicht – ausdrücklich nicht – gegen die "Schwurbler". Sondern für die Aufklärung, die Humanität, das Mitgefühl für die Leidenden, die Trauer um die Toten und vor allem auch für den Dank an die Heilenden und Pflegenden.

Eine schweigende Menschenkette wäre schön. Mit Abstand und Maske. Nicht gehend, sondern stehend. Ohne Parolen, ohne Geschrei, ohne aktive und auch ohne passive Gewalt. Quer durch alle Lager, denen Demokratie und gesellschaftlicher Frieden wichtig sind. Es soll ein vor Stille brüllendes Fanal der Vernunft und der Menschlichkeit sein. (Hannes Sonnberger, 15.12.2021)