Jeden Samstag ziehen zehntausende Impfkritiker und Impflichtgegner, verunsicherte Menschen zusammen mit Neonazis, Identitären, Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretikern durch die Straßen Wiens und anderer Städte Österreichs. Auch aus Deutschland werden im Zeichen der Radikalisierung mit einem Judenstern an der Jacke und mit schamlosen Transparenten Aufmärsche gemeldet. Fast ein Viertel der in der Öffentlichkeit auftretenden deutschen Pandemieforscher haben sogar Gewalts- und Todesdrohungen erhalten.

Mit infamen Lügen wird der wissenschaftsfeindliche Extremismus angefacht.

Demonstration durch die Innenstadt von Innsbruck.
Foto: imago images/Michael Kristen

So viel Wut und so wenig Verstand! Wo kommt das her, und warum sind die Leute so anfällig dafür? Über die Herausforderungen des Phänomens der Massen schreibt der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905– 1994) in seinem 1960 veröffentlichten Werk Masse und Macht: "Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch das Unbekannte (…) Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich (…) Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung. In dem Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als gleiche (kursiv im Original, Anm.) fühlen."

Zerstörungswut der "Hetzmassen"

Canetti, der 1927 die Erstürmung und den Brand des Wiener Justizpalasts durch die über ein skandalöses Gerichtsurteil empörte Masse erlebt hatte, analysierte historisch die Entladung und Zerstörungswut der "Hetzmassen", deren "Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen die ein für alle Mal als solche designierten Feinde" – die Gefährlichkeit der "Verzauberung" der in der Masse eingebetteten Einzelnen und wie sie in "Zuständen kollektiver Erregung" für Verschwörungstheorien jeder Art empfänglich werden. Die Szenerie auf dem Heldenplatz bei der FPÖ-"Megademo für Freiheit gegen Chaos und Zwang" und die Rede des FPÖ-Parteiobmannes Herbert Kickl haben wieder einmal bestätigt, was der französische Psychologe Gustave Le Bon (1841–1931) lange vor Canetti festgestellt hatte: "Menschen als Massen waren wie Kinder, leicht zu beeinflussen und noch leichter zu lenken, wenn man seine Botschaften gut verpackte und oft genug wiederholte."

Deshalb ist die Pandemie weit mehr als nur eine gesundheitliche und gesundheitspolitische Herausforderung. Die Parteien und Gruppen, die nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern unter anderen auch in Italien und den Niederlanden Öl ins Feuer gießen, eingeschüchterte und verunsicherte Menschen aus taktischem Kalkül manipulieren, zersetzen die Solidarität und den Wahrheitsanspruch der Gesellschaft.

Die Schönwettertaktik der Kurz-Regierung und der Landeshauptleute Tirols und Oberösterreichs hat das Vertrauen der Menschen in der Corona-Politik erschüttert.

Der einzige österreichische Spitzenpolitiker, der während der Corona-Krise konsequent Mut, Stehvermögen und Anpassungsfähigkeit bewiesen und sich auch vor unangenehmen Entscheidungen nicht gescheut hat, ist der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der durch seine Haltung maßgeblich zur Steigerung der SPÖ-Beliebtheitswerte beiträgt. (Paul Lendvai, 14.12.2021)