Die Lage im Osten Europas ist so brisant wie schon lange nicht. Seit Monaten fordert Russland die Ukraine durch Truppenkonzentrationen in Grenznähe heraus. Die Antwort Kiews lautet ebenfalls Aufrüstung – mit der Folge, dass das, was zuletzt bestenfalls als "frozen conflict" um die Ostukraine bezeichnet werden konnte, in einen heißen Krieg zu münden droht.

Bedroht fühlen sich nach eigenen Angaben beide Seiten: die Ukraine, weil sie befürchten muss, nach dem Verlust der Halbinsel Krim neuerlich zum Opfer russischer Territorialansprüche zu werden; aber auch Russland bezeichnet sich als Zielscheibe US-amerikanischer Aggression und fühlt sich angegriffen durch die anhaltenden Nato-Ambitionen Kiews.

Die Europäische Union kann sich in dieser heiklen Situation nicht den Luxus erlauben, das Ganze als Unbeteiligte aus der Ferne zu beobachten und gegebenenfalls mehr oder weniger empört zu kommentieren. Da die gemeinsame Außenpolitik aber bekannter- und erwiesenermaßen vor allem auf dem Papier existiert, bleiben ihr nur wenige Optionen. Wirtschaftssanktionen können Druck erzeugen. Diese sind zwar, wie Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg kürzlich einräumen musste, "eine relativ stumpfe Waffe". Aber eben eine nur relativ stumpfe.

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Die Ukraine rüstet in Grenznähe auf.
Foto: AP Photo/Andriy Dubchak

Darum war es essenziell, dass sich die Gruppe der G7 – neben den drei EU-Partnern (Deutschland, Frankreich, Italien) vor allem die USA und Großbritannien – auf rasch aktivierbare "ernsthafte, massive" Sanktionsmechanismen verständigt hat. Das geschah noch rechtzeitig vor dem EU-Gipfeltreffen ab Donnerstag; so können die 27 EU-Staats-und Regierungschefs Einigkeit und Klarheit demonstrieren.

Inszenierung Frankreichs

Der politisch-diplomatische Knochenjob muss aber weiterhin im "Normandie-Quartett" erfolgen: in jener halboffiziellen Kontaktgruppe zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland, die 2014 ins Leben gerufen wurde. Und dort könnte es zwei Faktoren geben, die endlich Bewegung versprechen: Zum einen wird Deutschland nunmehr durch Kanzler Olaf Scholz vertreten. Er mag in diesem speziellen Fall unerfahren sein; dennoch könnte es sich für Moskau lohnen, dessen Positionen auszuloten, die sich nach der Ära Merkel vielleicht neu darstellen. Und auch Emmanuel Macron wittert eine Chance: Er startet gerade seine Kampagne zur Wiederwahl als Frankreichs Präsident. Er hat folglich Interesse daran, sich einerseits als Mann der Stärke und andererseits als Problemlöser zu vermarkten. Die Inszenierung Frankreichs als starke Nation wäre nicht zum ersten Mal eine willkommene Ablenkung von innenpolitischen Problemen.

Das Duo hat bereits beim Antrittsbesuch des Deutschen in Paris auf die Ukraine-Problematik hingewiesen und, an Moskau gewandt, die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa betont: Es gehe weniger um Macht, sondern vielmehr um für alle verbindliche Prinzipien.

Für diese Prinzipien glaubhaft einzutreten und gleichzeitig deeskalierend zu wirken, denn ein anderes Instrumentarium steht der EU de facto nicht zur Verfügung: Das wird für die EU die große Aufgabe in den nächsten Wochen sein. Denn für Europa geht es um viel: Ein Versagen in Sachen Ukraine könnte Moskau dazu ermutigen, politisches Spiel auch mit den EU-Staaten im Baltikum zu treiben. Dort ist man in Bezug auf Moskau ohnehin schon seit Jahrzehnten alarmiert. (Gianluca Wallisch, 14.12.2021)