Die meisten Wiener und Wienerinnen kennen die Per-Albin-Hansson-Siedlung West, Gemeindebauten im Stil der Gartenstädte der Zwischenkriegszeit, das erste große Bauvorhaben der Stadt Wien nach dem Zweiten Weltkrieg. Namensgeber war ein langjähriger schwedischer Premierminister, der in einer Rede 1928 das "Volksheim", in dem es keine sozialen und ökonomischen Schranken gäbe, als Ziel sozialdemokratischer Politik formulierte.

Henning Mankell (1948–2015) war schwedischer Erfolgsautor.
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Der schwedische Wohlfahrtsstaat wurde in einer Zeit entwickelt, in der die meisten Industrieländer, insbesondere auch Österreich, schwer unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litten. Ausgebaut wurde er in vielen Jahren sozialdemokratisch geführter Regierungen, er galt weltweit als Erfolgsmodell reformistischer Politik.

Bruno Kreisky, vor den Nazis nach Schweden geflüchtet, organisierte von dort aus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Hilfslieferungen nach Österreich, Lebensmittel, Medikamente, aber auch Baumaschinen, mit denen aus dem Bauschutt der Bombenruinen Ziegel für den Wiederaufbau hergestellt werden konnten. Die Stadt Wien bedankte sich mit der eher sperrigen Benennung ihrer ersten großen Nachkriegsbauten nach Per Albin Hansson. Zentrum der Siedlung ist das Volksheim am Stockholmer Platz.

Eine Wiederauflage

Henning Mankells erster Spannungsroman, 1977 in Schweden erschienen, erst im heurigen Jahr in deutscher Sprache veröffentlicht, spielt im Schweden der Nachkriegszeit, also zur Hochzeit des Volksheims sozialdemokratischer Prägung.

Bertil Kras, "Held" des Romans, taucht eines Tages in einer kleinen Ortschaft in Nordschweden auf. Geboren ist er in Stockholm, wo er als Botenfahrer gearbeitet hatte. Warum er als Bewohner der Hauptstadt in die Provinz von Norrland geht, wird nicht weiter erklärt. Was aber bald klar wird, ist die Absicht Mankells, ihn in die Umgebung eines jener Arbeitslager zu führen, in dem während des Krieges Menschen interniert worden waren, die als Staatsfeinde galten, in erster Linie Kommunisten.

Von der Existenz solcher Lager zu sprechen verstößt gegen ein Tabu, waren sie doch offensichtlich unter stillschweigender Duldung der Regierung von Militär und Polizei eingerichtet worden, in einer Zeit, in der das Land eingekesselt war von Ländern, die von Hitler-Truppen besetzt oder mit Deutschland verbündet waren. Im Lande selbst waren rechte Kräfte aktiv, die sich mit den Nazis identifizierten oder zumindest mit ihnen sympathisierten.

Aggressionen

Bertil Kras findet Arbeit in einem Sägewerk, findet Anschluss an eine kleine Gruppe kommunistischer Aktivisten, die versucht, die nunmehr geleugnete Existenz des Arbeitslagers und die Rolle der für die Anhaltung, aber auch für kriegswichtige Lieferungen an Deutschland oder den Truppentransit Verantwortlichen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Durch ein geschicktes Ablenkungsmanöver erzeugt eine vom Besitzer des Sägewerks angeführte Gruppe rechter Bürger Aggressionen gegen einen fremden "Strolch". Ohne seinen Namen zu nennen, weiß der ganze Ort: Es ist Bertil Kras.

Der wird auch zusammengeschlagen. Interventionen bei Polizeikommissär Lönngren bleiben aussichtslos, hatte der doch einst die Festnahme der Internierten vollzogen.

Der "Verrückte"

Das Sägewerk brennt ab, offenbar war Brandstiftung im Spiel. Der Besitzer des Sägewerks wird tot aufgefunden. Ohne auch nur den Schatten eines Beweises glaubt der Ort zu wissen, wer der Täter ist. Dies belastet auch Bertils Beziehung zu einer jungen Frau und ihrer Tochter mit dem schönen Kosenamen Rubinchen. Er weiß nicht mehr, ob er bleiben soll oder weiterziehen, bis auf ihn und einen Gesinnungsfreund Schüsse abgefeuert werden. Einer dieser Freunde hat den Ort verlassen und auf einem Schiff angeheuert.

Die kommunistische Gruppe wird immer kleiner und verzweifelter. Mit liebevoller Ironie zeichnet Mankell die Agitation der Gruppe am Ersten Mai, das Anhören von Schallplatten mit Reden Lenins wird vereitelt, mehr als die Charakteristik der Stimme hätten die Zuhörer ohnehin nicht aufnehmen können. Es sind nur mehr drei Mann, die zum Schluss einer Vollversammlung der Parteizelle die Internationale anstimmen. Schließlich scheitert Bertil Kras grandios, er wird zum "Verrückten".

Ein Gesellschaftsmodell

Für Bruno Kreisky war das Volksheim ein Gesellschaftsmodell, dessen Vorzüge programmatisch auch auf österreichische Verhältnisse übertragbar waren. Es ist ein Modell des Reformismus, das auf die revolutionäre Phrase ebenso verzichtet wie auf revolutionäre Politik.

Es ist ein Modell, das aber auch Kritik hervorruft, setzt es doch eine möglichst homogene Gesellschaft voraus. Nicht nur Außenseiter wie Bertil Kras, auch Flüchtlinge und Migrantinnen stören die Harmonie. Nicht überraschend, dass heute die rechtsradikalen Schwedendemokraten nach einem Volksheim ihrer Lesart rufen. (Ferdinand Lacina, ALBUM, 18.12.2021)