James Hawes liefert in "Die kürzeste Geschichte Englands" einen Einblick in die Spaltung des traditionsreichen Landes.

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Tories ist das gälische Wort für Flüchtlinge. Es wurde im 17. Jahrhundert ironisierend, nach Cromwell-feindlichen Briganten, für die Partei verwendet, die den unanfechtbaren dynastischen Herrschaftsanspruch des Königs unterstützte. Die Gegenpartei waren die Whigs, wiederum spöttisch nach dem gälischen Wort für Pferdediebe genannt. Als solche galten schottische Puritaner. Für die Whigs stand das Parlament über jedem König.

"Instinktiv beriefen sich die Engländer in der Geburtsstunde der modernen Politik auf Beleidigungen, in denen sich die grundlegende Zerrissenheit der Britischen Inseln widerspiegelte", schreibt James Hawes in seinem Buch Die kürzeste Geschichte Englands.

Fundamentale Uneinigkeit prägte die politische, wirtschaftliche und kulturelle Realität Großbritanniens schon vor der Eroberung Englands durch die Römer, und sie lebt bis heute fort. Sie erklärt auch die tieferen Ursachen des Brexits, dessen Begleitumstände "den Briten" nicht zu besonderer Ehre gereichen.

Nord-Süd-Gefälle

Auf knapp 400 kurzweiligen Seiten mit zahlreichen Illustrationen und Schautafeln liefert Hawes, Schriftsteller und Universitätsdozent für kreatives Schreiben in Oxford, jede Menge Belege für das Nord-Süd-Gefälle, "den ältesten Faktor der englischen Politik". Im deutschsprachigen Raum ist der promovierte Germanist durch den Bestseller Die kürzeste Geschichte Deutschlands bekannt geworden.

Dem ökonomisch-kulturellen Graben zwischen England und dem Rest des (vorgeblich) Vereinigten Königreichs entspricht die traditionelle Kluft zwischen der Elite und dem breiten Volk. Nach der Invasion der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer 1066 war Französisch jahrhundertelang die Sprache der Oberschicht. Bis heute ist die Sprache der Eliten von Wörtern französischen Ursprungs durchdrungen.

Kluft zwischen Elite und Volk

Es mag paradox erscheinen, dass sich in der Person Boris Johnsons ein ausgewiesenes Mitglied dieser Eliten als Rächer der Enterbten stilisiert, indem er verspricht, das Nord-Süd-Gefälle zu überwinden. Aber: "Kein Wunder, dass die einfachen Leute, die sich durch Wandel, Immigration und Austerität in die Enge getrieben fühlten, nur allzu bereit waren, der Rebellen-Elite ihr Märchen von der bösen EU abzunehmen."

Die Tories, hervorgegangen aus der französisch, also kontinentaleuropäisch geprägten englischen Elite nunmehr als kompromisslose EU-"Flüchtlinge" – ein weiteres britisches Paradoxon. Die Prognose ist nicht sehr gewagt: Wenn der Preis des Brexits voll durchschlägt, werden sie auch aus der Verantwortung flüchten.

Hoher Preis

Und dieser Preis wird hoch sein. Das steht für Hawes fest, und er führt einen prominenten Zeugen mit erwiesenem Weitblick an. Winston Churchill habe schon 1912 erkannt, dass "ein unter den Tories vereintes England das Vereinigte Königreich, jetzt, da die Kelten (Schotten, Waliser, Anm.) wieder erwacht waren, zerstören" würde.

Mit dem Wahlsieg Johnsons Ende 2019 sei einem einzigartigen Staatskonstrukt, das vor knapp eineinhalb Jahrhunderten noch die Welt beherrscht hatte, der Todesstoß versetzt worden. "Die Imperien Englands verschwimmen in der Geschichte. Der Kampf um England steht kurz bevor."

Wer über den Brexit-Schlamassel der Briten nur noch den Kopf schütteln kann, wird ihn besser verstehen, nachdem er Hawes auf seinem historischen Parforceritt begleitet hat. At least a little bit. (Joe Kirchengast, ALBUM, 18.12.2021)