Bernhard Russi sieht Odermatt als Jahrhunderttalent – wie Marcel Hirscher und Alexis Pinturault.

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Auch wenn die große Kugel noch fehlt: Sportler des Jahres ist Odermatt schon.

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Und auch wenn es in Gröden nicht nach Wunsch klappte, mit Odermatt wird weiter zu rechnen sein.

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Bereits vor zweieinhalb Jahren wurde er von Marcel Hirscher als kommender Superstar bezeichnet, Der STANDARD hat ihn in weiser Voraussicht wenig später schon einmal porträtiert. Im alpinen Skirennsport ist er in der Zwischenzeit vom Riesentalent zum Leistungsträger gereift. Nicht zuletzt deshalb wurde Marco Odermatt am vergangenen Sonntag in Zürich zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt – mit fast doppelt so vielen Stimmen wie die zweitplatzierte Abfahrtslegende Beat Feuz.

Marco "Odi" Odermatt hat die vergangene Saison als Zweiter der Gesamt-, Riesentorlauf- und Super-G-Wertung abgeschlossen. In der noch eher jungen Saison hat er bei sieben Starts bereits drei Rennen (die Riesentorläufe in Sölden und Val d’Isère sowie den Super-G in Beaver Creek) gewonnen, war zudem einmal Zweiter (Super-G II in Beaver Creek) und führt die disziplinenübergreifende Wertung mit 453 Punkten vor Matthias Mayer (390) und dem Norweger Aleksander Aamodt Kilde (329) an. "Mein Ziel ist der Gewinn der großen Kristallkugel", sagt Odermatt unverblümt und befeuert damit die ohnehin hohe Erwartungshaltung zusätzlich – als würde ihm Druck nicht das Geringste ausmachen.

Reichlich Lorbeer

Unbekümmert geht Odermatt deswegen aber nicht an den Start, weiß Bernhard Russi. "Er verspürt wie alle anderen Druck und ist nervös. Er weiß, dass er an einem Tag der Weltbeste sein kann, aber auch, dass es nicht immer so sein muss", sagt der frühere Schweizer Skirennläufer, Abfahrtspistenplaner und Kolumnist des Blick dem STANDARD.

Russi steht mit seiner Meinung nicht alleine da, wenn er sagt, dass Odermatt ein Jahrhunderttalent wie der achtfache Weltcupgesamtsieger Marcel Hirscher (von 2011/12 bis 2018/19 ohne Unterbrechung erfolgreich) oder der Gewinner der großen Kristallkugel 2020/21, Frankreichs Alexis Pinturault, sei. "Er ist kein Bulle, könnte mit mehr Krafttraining ein Zehnkämpfer sein. Sein Talent gibt ihm die Gabe, dass Skifahren etwas völlig Natürliches ist. Wenn er Riesentorlauf fährt, habe ich nicht das Gefühl, dass er einen abgesteckten Kurs, sondern frei Ski fährt."

Odermatt hat sich mit seiner kein Risiko scheuenden und die Skier kompromisslos laufen lassenden Schweizer Präzisionsarbeit einen Namen gemacht, steht als erster Schweizer Skirennläufer bei Red Bull (also doch ein Bulle) unter Vertrag. Die von Hirscher seinerzeit gestreuten Rosen haben ihn nicht aus dem Konzept gebracht, er nahm sie als Kompliment und demonstrierte sein Können etwa beim Super-G in Beaver Creek 2019, als er seinen Premierenerfolg im Weltcup feierte. Exakt ein Jahr und einen Tag später holte er beim Riesenslalom in Santa Caterina seinen zweiten Sieg und den ersten Riesenslalomerfolg der Schweizer seit jenem von Carlo Janka 2011 in Kranjska Gora.

Ebendort hat Odermatt im Frühjahr auch brilliert und einen seiner bereits fünf Erfolge im Kalenderjahr verbucht.

Was den 24-Jährigen aus Buochs im Kanton Nidwalden auszeichne, sei "seine ungeheure Reife, seine Rennintelligenz", schwärmt Russi. "Er weiß genau, was seine Stärke ist, er fährt mit einer unglaublichen Sicherheit und er ist ein geerdeter Mensch. Seine Athletik, Technik und sein Körperbau sind ideal für schwierige Verhältnisse. Ich habe ihn noch nie in Rücklage gesehen. Er ist im Gleichgewicht, und das nicht nur als Techniker, sondern auch als Person."

Bescheidenes Leben

Tatsächlich hat der fünffache Juniorenweltmeister von Davos 2018 und siebenmalige Weltcupsieger noch nicht abgehoben. Statt etwa ein schickes Appartement zu bewohnen, teilt er sich mit einem Jugendfreund eine günstige WG. Selbst im Urlaub verzichtet er völlig auf Luxus. Verreist er mit Freunden, so passt er sein Budget an das seiner studierenden Spezis an. Von den Ersparnissen will er sich später vielleicht einmal ein schönes Haus gönnen. Bis es so weit ist, wird er wohl noch einiges abräumen, sofern er von schweren Verletzungen verschont bleibt.

In den vergangenen vier Jahren musste er bereits zweimal am Meniskus operiert werden. Da er aber laut seinem Arzt überdurchschnittlich viel Meniskussubstanz hat, sollte ihm daraus kein die Karriere gefährdender Nachteil erwachsen.

Von Schwächen des nach eigenen Aussagen schlechten Verlierers weiß auch Russi nicht zu berichten. "Da sehe ich nichts. Er wird an jedem Detail weiterarbeiten und hat die Möglichkeit, sich noch weiter zu verbessern."

Etwa in der Abfahrt, wo er nach vierten Plätzen bei der diesjährigen WM in Cortina d’Ampezzo (als Vincent Kriechmayr Gold holte) und Ende November in Lake Louise (als Matthias Mayer gewann) noch auf die erste Podestplatzierung wartet. Für Russi gehört Odermatt aber auch in der schnellsten Disziplin bereits zu den besten fünf der Welt.

Deshalb traut er dem Wunderwuzzi bei Olympia gleich drei Goldene zu. "Die technisch schwierige Abfahrt mit vielen Kurven in Peking kommt ihm entgegen. Von seinen Fähigkeiten her sehe ich ihn als dreifachen Olympiasieger wie seinerzeit Jean-Claude Killy in Grenoble 1968." Der Favorit auf den Gesamtweltcup-Triumph sei er nach Ansicht Russis ohnehin für die kommenden Jahre: "Ich sehe keine großen Gegner."

Unterirdisches Resultat

Beim Super-G am Freitag in Gröden wurde Odermatt jedoch nicht den Erwartungen gerecht. Auf der den Abfahrern entgegenkommenden Saslong kam er 1,37 Sekunden hinter Sieger Kilde als enttäuschter 24. an. Besonders viel hat sich Odermatt für Gröden aber ohnehin nicht ausgerechnet, zumal er auch auf die für den Super-G durchaus zweckdienlichen Abfahrtstrainings und somit auch das Rennen am Samstag (11.45 Uhr, ORF 1) verzichtete. Wesentlich mehr sollte am Sonntag und Montag drin sein, wenn auf der Gran Risa in Alta Badia zwei Riesentorläufe (jeweils 10 und 13.30 Uhr, ORF 1) auf dem Programm stehen. (Thomas Hirner, 17.12.2021)