Meisterhafte Beschreibung menschlicher Annäherungen, in denen stets ein Schlupfloch bleibt: Der Regisseur Kafuku und seine Chauffeurin in Ryūsuke Hamaguchis "Drive My Car".

Foto: Polyfilm

Nicht nur Barack Obama hat Drive My Car auf seiner aktuellen Bestenliste stehen. Das "Roadmovie" um einen schweigsamen Theaterregisseur und seine Fahrten in einem feuerroten Saab Turbo gehört zu den akklamiertesten Filmen von 2021, seit es im Sommer auf dem Festival von Cannes Premiere hatte. Das ist durchaus verblüffend, handelt es sich doch um einen leisen, hochkonzentrierten Film, auf den man sich einlassen muss. Sein Regisseur, der Japaner Ryūsuke Hamaguchi, im Filmzirkus bisher ein Festivalregisseur, kein "household name", gehört zweifellos zu den Entdeckungen des Jahres.

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Hamaguchis Film basiert auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Diese legt die innere Struktur des Geschehens aus, bleibt jedoch noch auf die Begegnung eines Regisseurs mit seiner neuen Chauffeurin beschränkt. Eingeführt wird diese Misaki nicht ohne Misogynie – man weiß schon, "Frau am Steuer" etc. Die beiden kommen einander trotzdem näher, weil sie die eigenen sozialen Defekte am anderen gleich wiedererkennen.

Die bei Murakami nur angedeuteten zwischenmenschlichen Verwerfungen rollt der Film nun in drei Stunden mit viel Feingefühl weiter aus. Hamaguchi ergänzt die Handlung um weitere Figuren und Erzählebenen – bis der Eindruck überwiegt, dass er eine ganz eigene, noch viel facettenreichere Welt entworfen hat.

Das Interesse des 43-jährigen Regisseurs galt bisher den bürgerlichen Lebensentwürfen von Frauen. Hartnäckig forschen die Filme nach den feinen Rissen, an denen sich das Leben verrät. Widersprüchliche Facetten des Begehrens behandelt beispielsweise Asako I & II, in dem die Protagonistin zwei konträre Beziehungen mit Männern eingeht, die paradoxerweise vom selben Schauspieler gespielt werden. In Wheel of Fortune and Fantasy, der vor kurzem in heimischen Kinos anlief, inszenierte Hamaguchi drei Episoden über Frauen, die durch Zufallsbegegnungen zu einer anderen Wahrnehmung von sich selbst gelangen und Lust auf Veränderung verspüren.

Kreativschub beim Sex

Drive My Car kann man als Weiterführung dieser Themen sehen, auch wenn mit dem von Hidetoshi Nishijima verkörperten Theatermacher Kafuku nun ein Mann im Mittelpunkt steht. Die Frage, was in Beziehungen unausgesprochen und unausgelebt bleibt, stellt sich unter anderen Vorzeichen wieder. In den ersten 45 Minuten des Films rückt Hamaguchi die Ehe von Kafuku mit der Autorin Oto (Reika Kirishima) im Zentrum. Das funktioniert wie eine eigene Geschichte: Sie kreist um Vertrauen, um schmerzhafte Verluste und um Sex als exzentrische Form von Kreativität. Oto erfindet beim Liebesakt Fantasien, die sie dann als Stoff für Serien verwendet. Später wird Kafuku während der Autofahrten seine Dialogzeilen zu Onkel Wanja mit einer Kassette üben. Er spricht seinen Part live, in den anderen ist die mittlerweile verstorbene Oto zu hören.

Das ist nur eine der traumatischen Bezüge, die Hamaguchi gegenüber der Vorlage verstärkt: Die Vergangenheit lastet auf den Figuren. Sie können sich nicht davon befreien, weil sie irgendwann aufgehört haben, sich weiterzubewegen, zu erneuern. Dass der Film in Hiroshima spielt, ist natürlich hochsymbolisch, wird von Hamaguchi allerdings zurückhaltend eingesetzt.

Kafuku ist im Film ein Theaterregisseur, der auf einer kleinen Insel vor der Stadt Tschechow inszenieren soll. Drive My Car verläuft von diesem Zeitpunkt an in zwei Richtungen: Während der Film den Casting- und Probenprozess begleitet, in dem sich die Rollen erst entwickeln, wird auf der zweiten Ebene die Vergangenheit der Figuren wie ein weiterer Text erkundet. Nur dass es dort um die mühevolle Aufgabe von Gewohnheiten geht.

Das zentrale Vehikel der Rückschau ist das Auto selbst. Das Festival sieht vor, dass Misaki den Regisseur vom Hotel zu den Proben chauffiert. Tôko Miura verleiht ihr den Ausdruck eines indifferenten Tomboys. Sie fährt nicht nur samtweich, sondern bringt auch die nötige Distanz ins mobile Privatreich mit. Aus den Dialogen der beiden generiert der Film seine untergründige Spannung. Das Schöne daran: Es bleibt ein unergründlicher Rest.

Überwindung der Rolle

Es liegt nahe, auch in den Rückbezügen auf Onkel Wanja einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt zu suchen. Tatsächlich geht es Hamaguchi aber noch mehr darum, aus festgelegten Rollen auszubrechen, sie endlich zu überwinden. Da passt es gut dazu, dass er neben Eric Rohmer auch John Cassavetes als einen Einfluss nennt. Der wollte Schauspieler aus ihrem Korsett befreien.

Auch hier soll die Theaterinszenierung nicht das Leben wiederholen, sondern neue Energien freisetzen: Kafuku setzt auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Darsteller, sie stammen aus diversen Ländern, auch eine gehörlose Frau ist unter ihnen. Und mit dem jüngeren Takatsuki (Masaki Okada) sogar jener Mann, mit dem ihn Oto einmal betrogen hat.

Die große Könnerschaft von Hamaguchi liegt nun darin, wie er diese Konstellation auflöst, ohne auf Intrigen oder anderen dramatischen Bombast Wert zu legen. Er überwältigt ganz allein mit seiner Kunst der feinen Nuancierung. (Dominik Kamalzadeh, 23.12.2021)