Wir alle kennen sie und haben ihnen bereits als kleine Kinder gelauscht: die Märchen. Was aber genau macht diese Textsorte aus? Bei Märchen handelt es sich um anonyme, ursprünglich nur mündlich überlieferte Geschichten, die sich durch eine Eigenschaft auszeichnen: Objektiv gesehen sind sie unwahr. Dennoch rufen ihre fantastischen und unerhörten Ereignisse in denen, die ihnen lauschen, Staunen und Freude hervor! Es ist also nicht verwunderlich, dass sich diese Gattung durch alle Kontinente zieht und in allen Zeiten und bei allen Völkern finden lässt.

Viele ihrer Muster spiegeln sich bis heute in unserem Denken, unserer Vorstellung von der Welt und unserem Sprechen wider. Ein Beispiel wäre hier die Phrase "Es war einmal", die sich bis heute großer Beliebtheit erfreut! Über achtzig Texte, die sich in der zweibändigen Ausgabe der Grimm’schen Märchen aus dem Jahre 1857 finden, weisen diesen Anfang auf! Freilich ist die Redewendung keine Erfindung der Brüder Grimm, wie der Koblenzer Literaturprofessor Lothar Bluhm ermittelt hat. "Es war einmal" – so also fangen diese besonderen Geschichten an. Der Satz markiert einen klaren Beginn. Ja tatsächlich: Anfang und Ende sind etwas, das die klassischen Märchen im Besonderen charakterisiert.

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Außerdem findet sich in jedem klassischen Märchentext ein Erzählbogen, der Spannung auf- und dann wieder abbaut. Noch ein wichtiges Merkmal ist, dass jedes traditionelle Märchen eine gewisse Kürze aufweist, sodass die Figuren nur so etwas wie "Scherenschnitte" sind und wir sie immer entweder in einer knapp gehaltenen Episode ihres Lebens kennenlernen– oder aber nur etwas über einen bestimmten Aspekt von ihnen erfahren. Die Anfangsformel in Märchen hatte ursprünglich die Funktion, die Glaubwürdigkeit des Märchens zu belegen, dessen Handlung ja in einer fernen, geheimnisvollen Vergangenheit stattfindet, die aber für uns doch in irgendeiner Weise auch real sein muss.

Durch den inflationären Gebrauch im Laufe der Jahrhunderte aber hat sich die Funktion der Anfangsformel gewandelt: Wer heute eine Erzählung hört, die mit "Es war einmal ..." beginnt, der weiß sofort: das ist ein Märchen – und zweifelt den Inhalt des Gehörten an. Meist benutzt man diese Redewendung in der Gegenwart gerne mit einem etwas ironischen Beigeschmack, möglicherweise auch, um eine recht alltägliche Schilderung für die Zuhörer aufregender zu machen.

Dasselbe gilt für Formulierungen wie "Vor Zeiten" oder: "Es trug sich zu". Die klaren Anfangs- und Schlussformeln von Märchen sind etwas, das uns bereits in der Grundschule nahegelegt wird. Nicht umsonst ist es bis heute eine beliebte Übung im Deutschunterricht, SchülerInnen angefangene (Märchen-) Texte in Eigeninitiative fertigschreiben zu lassen. Man wird also schon in jungen Jahren mit Märchen konfrontiert. Was ist es, das uns Menschen an dieser Gattung nicht loslässt? Vielleicht ist es der Aspekt der Zeitlosigkeit, der bis heute derart fasziniert. Ein Märchen bezieht sich immer auf vergangene Ereignisse. Wen wundert es da, dass viele Märchen mit Sätzen wie "als Gott noch auf Erden wandelte" übertitelt sind?

Gleichzeitig jedoch bilden diese Ereignisse paradoxerweise eine Dauerstruktur, sie können immer schon geschehen sein – und das bezieht sich sowohl auf Vergangenheit und Gegenwart als auch auf Zukunft. Diese Tatsache macht das Märchen unsterblich. Weil seine Themen aber wiederkehrend sind, hat auch jede Variante des Märchens – man denke hier nur an den konkreten Stoff des Orpheus, der in der Literatur- und Musikgeschichte sehr oft vorkommt – in all ihren Facetten die gleiche Berechtigung. Ja mehr noch: Mit jeder Arbeit kann man das Märchen über- und weiterschreiben!

In diesem Sinne möchte ich die Geschichte eines besonderen Mädchens neu erzählen, das Sehnsucht nach den Sternen hat. Wie die meisten Geschichten beginnt auch diese mit der beliebten Phrase "Es war einmal". Ich beginne wie immer – mit einem Doppelpunkt:

Wenigstens die Sterne

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war sehr arm. Es war mit einem Bus in eine Stadt gekommen, die ihm sehr fremd war. Da sprachen die Leute fremde Sprachen, hatten viel hellere Haut, und außerdem lebte sie dort mit ganz vielen Menschen in einem Zelt auf einem Betonplatz. Es gab wenig zu essen, und hin und wieder musste das Mädchen den Betonplatz verlassen und in den Mülleimern rings umher nach Essen suchen, das es seinen Eltern brachte. Das alles machte das Mädchen sehr traurig. Vor allem aber war das Mädchen traurig darüber, dass es auf einem Betonplatz leben musste. Denn es kam eigentlich aus der Wüste, wo der Himmel weit ist und tausende Sterne auf ihm glitzern.

Eines Tages, als es wieder einmal nach Essen suchte, konnte es vor Sehnsucht gar nicht mehr aufhören, an diesen Himmel zu denken.

"Ich mag so gern wenigstens die Sterne sehen. Ich hab ja sonst nichts!", dachte es.

Sophie Reyer, geboren 1984 in Wien, ist promovierte Philosophin und Komponistin klassischer Musik. Sie lebt als Schriftstellerin in Baden. Zuletzt erschien von ihr der Roman "1431" (Czernin, 2021).
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Ich finde keine Sterne

Und so beschloss es, noch weiter zu gehen. Das war gar nicht so leicht, denn der Betonplatz war eingezäunt und wurde von bösen Riesen bewacht. Aber das Mädchen war schlau, und außerdem war seine Haut sehr dunkel, sodass man es in der Nacht nicht sah.

So konnte es heimlich unter dem Zaun hindurchklettern und kam schließlich in die Stadt. Da traf es einen kleinen Jungen, dessen Eltern gerade nicht zu Hause waren, weil sie arbeiteten, und der deshalb noch spät durch die Stadt spazierte,

"Woher kommst du denn?", fragte er neugierig, "und warum bist du so dunkel?"

"Ich bin über die Grenze gekommen, mit dem ersten Schnee. Aus einem ganz anderen Land!", sagte das Mädchen.

"Verstehe!", erklärte der Junge. "Und was suchst du?"

"Ich mag so gern ein paar Sterne am Himmel sehen", erklärte das Mädchen da ehrlich. "Wie damals daheim in der Wüste. Aber ich finde einfach keine.

Der Junge nickte.

"Ja, ich weiß. Das ist die Lichtverschmutzung", sagte er ein bisschen angeberisch – denn das hatte ihm der Vater so erklärt. Das Mädchen verstand das Wort zwar nicht, weil es die meisten Worte dieser Sprache nicht verstand, aber der Junge gefiel ihm. Also lächelte es.

"Hej", meinte der Junge da, der sich über das Lächeln freute, "ich weiß einen Ort, da kann man die Sterne noch betrachten!"

So nahm er das Mädchen mit, und sie gingen auf eine Wiese hinter der Stadt. Tatsächlich: Hier, auf der weiten Ebene unter dem Himmel, konnte man sie funkeln sehen: die Sterne, diese alten Freunde des Mädchens! Fast genauso wie damals in der Wüste! Nur dass es hier Gras gab unter den Füßen und keinen Sand! Aber das war egal, denn das Glitzern war noch haargenau das alte! Und dieses war so schön, dass das Mädchen es vor Freude gar nicht mehr aushielt und zu tanzen begann. Es tanzte und tanzte und lachte dabei ganz laut!

Aber siehe: Was war das? Als das Mädchen seinen Kopf hob, da sah es nicht nur die Sterne, sondern auch noch ganz viele kleine weiße Flöckchen, die herabregneten. Es hielt inne und sah sich um.

"Die Sterne – weinen sie jetzt etwa?", fragte es zögerlich einen alten Obdachlosen, der gerade vorüberging. Der aber lachte nur.

"Das ist Schnee", sagte er.

"Was ist Schnee?", fragte das Mädchen, das so etwas in der Wüste noch nicht gesehen hatte.

"Schnee ist gefrorener Regen!", murmelte der Mann und nippte an seiner Bierflasche. Dann war er auch schon wieder weg. Das Mädchen aber sah wie gebannt den weißen Flocken zu, die um es herumwirbelten, und wurde von großem Staunen ergriffen. Noch viel schöner und geheimnisvoller kamen ihm da die Sterne am Himmel vor! Und vor lauter Freude tanzte es weiter. (Sophie Reyer, ALBUM, 26.12.2021)