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Wer nicht rauskann, blicke in sich hinein, würde Xavier de Maistre empfehlen.

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Mit jedem neuen Lockdown, den die Pandemie ihren potenziellen Opfern zu bewältigen aufgibt, wächst ein neuartiges Wissen. Noch bis vor kurzem waren´ die Menschen der Spätmoderne notorische Zimmerflüchtlinge. Wer trotz moderaten Wohlstands muffelig zu Hause saß, galt als Spielverderber.

Das Hinterlassen "ökologischer Fußabdrücke" mag sündhaft sein. Es kuriert jedoch Anfälle von Fernweh. So wird dem Reisenden zu der verblüffenden Einsicht verholfen, dass der Marken-Sneaker im Schaufenster auf dem Kontinent gegenüber auch nicht so viel goldiger glänzt als der Turnlatschen beim Foot Locker daheim.

Gewiss, die Menschen vor rund 200 Jahren waren pandemisch vielleicht weniger geplagt als wir. Ihre Lust, in die Ferne zu schweifen, kurierten sie meistens aus freien Stücken, und das in der Regel vor Ort: bevorzugt innerhalb der eigenen vier Wände. Eine solche Erkundung des Horizonts führte bis in die eigenen Zimmerritzen.

Etwa mit Veröffentlichung der Reise um mein Zimmer des abenteuerlichen Franzosen Xavier de Maistre (1765–1852) im Jahre 1795 erreichte die Entwicklung der wohnungsinternen Reiseliteratur einen ersten, zugleich letzten ultimativen Höhepunkt. De Maistre, ein abenteuerlustiger Landschafts- und Porträtmaler, landete in Turin. Dort wurde er, aus Anlass von Liebeshändeln, als Duellant und Krawallschläger für die Dauer von 42 Tagen auf sein Zimmer verbannt.

Was sich aus heutiger Sicht wie schandbarer Freiheitsentzug ausnimmt, erwies sich für den Autor als Segen. Der Bruder eines nachmals reaktionären Philosophen und Antihumanisten (Joseph de Maistre) sattelte um. Als Zimmerarrestant versenkte er sich in die besonders geflissentliche Betrachtung seiner allernächsten Umgebung.

Freuden der Introspektion

Diese ebenso löbliche wie gesundheitsfördernde Fähigkeit zur meditativen Versenkung gibt bis heute ein allerdings weithin leuchtendes Vorbild an: Sie bildet noch heute ein Lockerungsprogramm für alle pandemisch Eingeschränkten.

Als eremitischer Globetrotter lobte de Maistre in besonders erhellender Weise die Freuden der Introspektion. Dieser Humanist und Zimmerhocker wider Willen vertiefte sich besonders angelegentlich in den Anblick der Ölgemälde an der Wand. Er entdeckte die bedeutendste aller Sehenswürdigkeiten, indem er in den Spiegel blickte. Und er löste im Handumdrehen das ewige Rätsel der Liebe: Der Blick der Angebeteten ("Mademoiselle de Hautcastel") verfolgte ihn ohne Unterlass quer durch sein Zimmer.

Xavier de Maistre erlernt unterwegs durch die Pampa seiner Herberge die Kunst, zwischen der Seele und dem körperlichen Substrat seiner selbst ("das Tier") strikt zu unterscheiden. Die Tour durch sein Zimmer führt ihn schnurstracks in sein Inneres: Dieses bildet den einzigen Schauplatz, auf dem sich das Urteil über Glück oder Unglück der menschlichen Lebensreise zu entscheiden vermag.

Xavier de Maistres artiger, rokokohafter Zimmerroman mag allen temporär Eingesperrten, Eingezwängten und -geengten als ewiger Lockruf der Freiheit dienen. Die Flanerie, der "Gedankenspaziergang", kann das Gespenst der Entfesselung evozieren.

Von hier aus führt ein relativ gerader Weg hin zu wütenden Eremiten wie den Schreiber Gustave Flaubert, der aus dem Fenster seiner Klause in Croisset die Sätze seiner makellosen Prosa hinaus ins Freie brüllte. Von dort geht es weiter, in die muffigen Untermietzimmer Franz Kafkas, in denen harmlose Vertreter morgens entweder als Käfer oder als grundlos Angeklagte erwachen. Die eigenen vier Wände beherbergen vor allem eines: die unbegradigte Wildnis der menschlichen Existenz.

Xavier de Maistres Die Reise um mein Zimmer gibt es auf Deutsch als Ausgabe beim Aufbau-Verlag (2011) im modernen Antiquariat. (Ronald Pohl, 25.12.2021)