Peter Riemer ist Inhaber der K.k. Lotto Collectur hinter dem Stephansdom.

Foto: Heribert Corn

Die Zeitmaschine kann ruhig in der Garage bleiben. In der Wiener Innenstadt lassen sich auch ohne sie ganz wunderbar Ausflüge in vergangene Epochen unternehmen. Ein besonderer Trip führt ins Jahr 1752. Zumindest auf den ersten Blick. Damals wurde die erste K.k. Lotto Collectur in Wien gegründet. Grünes Licht dazu gab Kaiserin Maria Theresia.

Das kleine, bis heute existierende Geschäft liegt sozusagen am Hintern des Stephansdoms. Dort, wo sich der jahreszeitlich bedingt nackige Götterbaum beim Südturm im kalten Winterwind wiegt. Dort, wo sich die Inschrift eines Grabsteins aus dem Jahr 1603 entziffern lässt. Dort, wo Touristen auch im Winter Selfies vor einem Blumengeschäft machen, das es auch mit Blumenläden im Pariser Saint-Germain aufnehmen kann. Locker.

In das Gurren der Tauben mischen sich die Geräusche der Restauratoren, die auf Gerüsten die Steine des Doms mit Hochdruck reinigen. Quietscht die Türe der Lotto Collectur, betritt man das kleine Reich von Peter Riemer, der hier seit 2002 Chef ist. Die Location wirkt skurril, aufgeräumt. Würden nicht die LottoFähnchen vor dem Geschäft im Wind flattern, man wüsste nicht recht, womit man es hier zu tun hat, auf diesen zehn Quadratmetern, in denen das Glück regiert. Oder das Pech.

Das kleine Reich hält als Glücksspielort, unfreiwilliges Fluxusmuseum, als Plauderort und Destination für Zeitreisende her.
Foto: Heribert Corn

Herr Riemer ist hinter einer Plexiglasscheibe und einem Tresen aus Holz zu finden. Es gibt zwei Schalter, einen für ihn und einen für seinen Angestellten. Zu zweit sind die beiden lediglich in den wöchentlichen Hochzeiten, wenn alle noch schnell einen Schein abgeben möchten, also Dienstag und Freitagnachmittag. Bis zu 100 Kunden lassen pro Tag die Türe quietschen. Die meisten von ihnen seien Stammkunden. "Viele kommen zu mir, weil es bei mir nicht so hektisch wie in einer Trafik zugeht", sagt Riemer. Mehr als die Hälfte spielen Quicktipps. "Dem Computer ist das egal", sagt der Lotto-Mann. Der Kugel auch.

Rund um Riemer sind fein säuberlich gestapelt Lotto- und Toto-Scheine zu sehen, vor ihm die typischen Maschinen und Bildschirme, die mit Scheinen gefüttert werden und über Gewinne Auskunft geben. Kleine und ganz große. Es sind die gleichen roten Glücksbotengerätschaften, wie man sie aus Trafiken kennt. Ebenso ein Stelldichein geben sich ein Buddha und kleine Elefanten. An den Wänden picken Kopien von großen Gewinnen über 1000 Euro, die Herr Riemer allerdings nicht auszahlen darf. Das geschieht in der Regel über die Zentrale der Lotterien nach einer sogenannten Reklamationsfrist von vier Wochen. Während derer heißt es, gut aufzupassen auf das kleine Zettelchen. Die Kopien an der Wand der Collectur machen Mut, drei Quicktipps um 6,60 Euro seien also riskiert, wenn man schon einmal hier ist. Natürlich mit Joker. No risk, no fun.

Gewinnstarre

Der wertvollste Schein, der je in Riemers Geschäft gespielt wurde, brachte einem Glückspilz 1,5 Millionen Euro. "Wenn so etwas passiert, glauben die Kunden im ersten Moment, es handelt sich um einen Irrtum, und sagen: ‚Gehen S’, schauen Sie noch einmal.‘" Der Bildschirm, auf den der Kunde blickt, zeigt wegen eventuell in der Schlange stehender, neugieriger Hälserecker nur Gewinnsummen bis 1000 Euro an. 1000 Euro und ein Cent oder gar Millionen, das sieht nur Riemer hinter seinem Schalter an einem Computer.

Der Glücksritter vom Stephansplatz spricht im Zusammenhang mit ersten Reaktionen von einem positiven Schock, einer Gewinnstarre, die meist erst nach einem Tag verflöge. Apropos Glücksritter: Im Schnitt lässt der Kunde Riemers pro Ziehung zehn Euro liegen, zweimal pro Woche. Einer hat in der Collectur gleich 7000 Euro vertippt. "Dabei ist der Mann Millionär", plaudert Riemer aus dem Nähkästchen. Und das ist gut gefüllt.

Die Lotto Collectur hat in Sachen Relikte einiges zu bieten.
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"Am TV-Schirm kontrollieren nur noch wenige ihre Scheine", sagt der 51-Jährige, der von einem Job als Restaurantleiter ins Glücksspiel wechselte. Heute lassen die Kunden die Scheine bei mir kontrollieren, und die Jungen checken die Zahlen überhaupt über eine App auf dem Handy." Dennoch würden die reinen Online-Tipps die Zehn-Prozent-Marke des Tippvolumens noch nicht überschreiten.

Bis vor zwanzig Jahren waren Riemers beste Kunden Pensionisten. Bei ihm vorbeizuschauen gehörte zu deren Tagesritual. "Natürlich gibt es derlei Kunden noch immer. Von mir gehen sie dann weiter zum Einkaufen und ins Kaffeehaus zum Zeitunglesen", erzählt Riemer, während eine Dame ihren Gewinn von sechs Euro abholt und meint: "Für einen Kaffee reicht’s", ehe sie wieder die Tür quietschen lässt. Lotto-Annahmestellen wie die von Riemer hätte es in Wien früher um die 30 gegeben. Jetzt schätzt er die Zahl auf keine zehn. Auch über früher kann der Mann viel erzählen. Doch dazu später.

Foto: Heribert Corn

Die Collectur könnte auch als kleines Fluxusmuseum durchgehen. Der Besucher entdeckt ein Foto von Picasso samt Federschmuck, alte Ansichten dieser Ecke des Stephansplatzes und Dagobert Duck, der hier in Form eines Bildes, aber auch "skulptural" auftaucht. Schmunzeln darf man ebenso über Riemers Automodelle aus Lego. Hinter Glas parken ein Mini und ein Fiat 500. Das größte Modell ist ein grasgrüner Lamborghini, ein Auto für Jackpot-Gewinner, möchte man meinen. Ferner zeigen sich Glücksschweine, ein kleiner Kaffeeautomat und eine Art Friseurstuhl, auf dem man über die richtige, die einzige, die gewinnbringende Zahlenkombination sinnieren oder verzweifeln kann.

"Jede Kugel hat dieselbe Chance, und ich beschäftige mich viel mit Wahrscheinlichkeiten. Es ist doch eigenartig, dass 70 Prozent der Kunden Zahlen unter 31 spielen, weil sie meisten Geburtstage, Hochzeitstage oder sonstige Daten auswählen." "Dabei", so berichtet Riemer selbst verwundert, "hatten wir vor kurzem bei Lotto-Plus die Zahlen 31, 34, 36, 37, 38, 39. Sechs 30er Zahlen, und dann noch ein Vierling." Erstaunlich in der Tat, aber offensichtlich realistisch. Auch die Chance auf einen zweiten Sechser-Jackpot sei genau so groß oder klein wie auf einen ersten. "Glück kann man nicht erzwingen, aber auch nicht verhindern", lautet ein Slogan von Riemer.

Mozart und der Kofferträger

Riemer selbst spielt nur dann und wann, etwa bei Riesen-Jackpots. Einmal gewann er 150 Euro mit einem Vierer samt Zusatzzahl. Er sieht es gelassen und wirkt stolz auf sein kleines Reich, über das er nicht müde wird zu parlieren. Von einer Millionengewinnerin in Französisch-Polynesien und davon, wie Maria Theresia zu Ohren kam, dass sich bei einer Wahl 1740 in Florenz 90 Kandidaten für die Wahl von fünf Senatoren beworben hatten und aus diesem Spektakel das Lotto-Spiel fünf aus 90 entstand. Die Kaiserin dachte an die Staatskasse und verlieh 1751 das Lotto-Privileg. Kurze Zeit später sperrte der Urchef von Riemer die Collectur auf. Eine vergilbte Kopie des Papiers von 1751 ist bei Riemer an der Wand zu finden. Wo sonst?

Der Collectur-Inhaber möchte ebenso zum Besten geben, dass Mozart vorbeikam, ehe er ins Café Frauenhuber weiterzog. Der Komponist wohnte um die Ecke in der Domgasse. Auch die Geschichte des portugiesischen Kofferträgers geht noch: Der war, ebenfalls gleich um die Ecke, in einem Hotel beschäftigt. "Der Mann hat all sein Trinkgeld hier verspielt und eines Tages 15 Millionen Schilling gewonnen. Mein Vorgänger ging mit ihm auf die Bank und half ihm dabei, ein Konto zu eröffnen. Daraufhin zog der Glückspilz wieder nach Portugal und lebte fortan von den Zinsen. Das waren damals noch sieben Prozent."

Die K.k. Lotto Collectur ist mehr als eine Annahmestelle. Sie ist Zeitreise, Schicksalsort, Hoffnungseckerl, Plauschstätte und etwas Besonderes, das es zu entdecken lohnt. Damit kann eine App nicht mithalten.

Der Dreier-Quicktipp? Die Kugeln haben sich nicht einmal für eine Zahl entschieden. Eh klar, ihnen ist es egal. Hauptsache, Riemer hat noch mehr Scheine. Und Geschichten! (Michael Hausenblas, 1.1.2022)