Zu sehen in München: Heidi Bucher beim Häutungsprozess von "Herrenzimmer", 1978.

Foto: The Estate of Heidi Bucher / Hans Peter Siffert

Die hauchdünnen Wände sehen aus, als hätten sie reichlich Nikotin inhaliert, man denkt angesichts der gelblich braunen Färbung auch an Spirituosen aus dem Eichenfass und an alte weiße Männer, die einander selbstgefällig damit zuprosten. Und ist es bloß Einbildung, oder haben die verschrumpelten Abformungen der Türklinken etwas Phallisches an sich? Großartig, wie die Beschaffenheit des Materials der Vorstellung in die Hände spielt, die man sich von einem Herrenzimmer macht.

So ein Zimmer gab es auch in Heidi Buchers großbürgerlichem Elternhaus im schweizerischen Winterthur, sie hat es 1978 mit flüssigem Kautschuk bestrichen und ihm dann die Haut abgezogen. Ein Akt der Befreiung aus patriarchalen Strukturen und gesellschaftlichen Konventionen, zudem auch ein physischer Kraftakt: Filmaufnahmen zu Herrenzimmer zeigen die Schweizer Künstlerin (1926–1993) beim Häutungsprozess, sie versinkt dabei regelrecht in den mühsam von den Wänden geschälten Latexbahnen.

Ungesehene Dichte

"Räume sind Hüllen, sind Häute. Eine Haut nach der anderen ablösen, ablegen: das Verdrängte, Vernachlässigte, Verschwendete, Verpasste, Versunkene, Verflachte, Verödete, Verkehrte, Verwässerte, Vergessene, Verfolgte, Verwundete", sagte Bucher einmal. Und hat aus diesem Gedanken heraus ein faszinierendes Hauptwerk geschaffen, das lange sträflich vernachlässigt wurde und jetzt in bisher ungesehener Dichte im Münchener Haus der Kunst gezeigt wird.

Wie abgestreifte Kokons und stumme Zeugen gelebter Geschichte hängen Buchers Raumhäutungen da von der Decke, darunter auch das Audienzzimmer des Doktor Binswanger, in dem selbiger in engem Austausch mit Freud die vermeintliche Hysteriepatientin und spätere Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim behandelt hat, oder das Eingangsportal des Grand Hôtel Brissago, einst Intellektuellentreff, dann nationalsozialistisches Internierungslager für jüdische Frauen und Kinder.

Die Haut abziehen

In dem von Hitler in Auftrag gegebenen Nazikunstbau entfalten Arbeiten wie diese naturgemäß eine besonders intensive Wirkung, sie treffen aber auch den Nerv aktueller erinnerungspolitischer Debatten. Was, wenn man manchen Denkmälern die Haut abziehen und sie damit demaskieren würde?

Die von Jana Baumann kuratierte Retrospektive Metamorphosen entführt zunächst aber ins diffuse Licht einer kalifornischen Strandszenerie: Buchers künstlerische Ambitionen wurden zunächst in Richtung Mode- und Textildesign gelenkt, sie studierte in Zürich bei Johannes Itten, mit Ehemann Carl Bucher übersiedelte sie Anfang der Siebziger nach Kalifornien. In Los Angeles kam sie in Kontakt mit dem West-Coast-Feminismus und Künstlerinnen wie Judy Chicago oder Miriam Schapiro.

Bucher entwarf muschelartige Bodyshells, in denen man sie in einem Film aus dem Jahr 1972 am Strand von Venice Beach performen sieht – eine in schimmernden Schaumstoff verpackte Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen. Auch die Idee der Häutung schlummert bereits in Körperskulpturen wie Libellenlust.

Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz begann Bucher diese Idee auf Räume zu übertragen. Wobei der Akt des Häutens stets filmisch dokumentiert und somit auch als performative Erkundung des Verhältnisses von Körper und Raum festgehalten wurde. Bruce Nauman fällt einem da ein, oder auch Rachel Whiteread mit ihren ungleich massiveren Betonabgüssen von Architekturen. Dagegen schweben Buchers Häute im Raum wie unheilvoll funkelnde Bernsteinzimmer. (Ivona Jelcic, 28.12.2021)