Poet Franz Josef Czernin, wohnhaft im steirischen Wald, hofft auf eine Wiederbelebung des Wortes "Corona": "Vielleicht ist es in zehn Jahren von seiner aufdringlichen Aktualität reingewaschen."

Foto: Heribert Corn

Bereits sein Band Gelegenheitsgedichte (1986) gab den Ton von Franz Josef Czernins Dichten vor: "nur mut! / ein ganzer schritt, / der fuss ist fort: / das gehen steht alleine da": Doch Hand und Fuß hatte Czernins poetische Arbeit stets. Getrieben vom Geist der Universalpoesie, gewaschen mit allen Wassern der Avantgarde, betreibt der Autor das Geschäft des Dichtens als Erprobung von Erkenntnisformen. Heute arbeitet er an einer Umschrift von Dantes Göttlicher Komödie, "auf der Höhe heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis": "Um damit fertig zu werden, müsste ich freilich 130 Jahre alt werden!"

STANDARD: Sie haben geschrieben: Poesie auf der Höhe ihrer Möglichkeiten entfesselt ein Spiel der Kräfte, des Verstehens, der Tradition und so weiter. Sie betreiben dieses Spiel seit 40Jahren. Erkennen Sie Fortschritte?

Czernin: Ich hoffe es. Die Feststellung einer Entwicklung impliziert nicht notwendigerweise, dass sie zu etwas Besserem führt. Dinge wie das Dichten verändern sich zwangsläufig, womöglich auch "organisch".

STANDARD: Sie haben sich immer wieder gegen die Vorstellung der Inspiration gewandt. Wenn Sie heute vor dem leeren Blatt Papier sitzen: Beginnen Sie noch – oder wieder – bei null?

Czernin: Das glaube ich eigentlich nicht. Auf einer ersten Ebene schon, weil das Blatt nun einmal leer ist und man mit irgendetwas anfängt. Dann glaube ich zu bemerken, dass das bisher Gemachte sofort mitspielt. Damit erscheint auch die Leere des Blattes zufällig. Man gerät in Fahrwasser, die man schon vorgebahnt hat, was ja nicht heißt, dass sich nicht vergleichsweise Neues ergeben kann. Bei null fängt man sicher nicht an. Ich glaube auch nicht, dass das sinnvoll denkbar wäre.

STANDARD: Wie sieht Ihre ideale Leserin, Ihr idealer Leser aus? Darf man von ihr oder ihm verlangen, dass sie an dem Spiel der Kräfte teilnehmen?

Czernin: Manchmal stelle ich mir imaginäre Leser vor. Oder eigentlich ideale. Ich denke mir: Was würde jemand denken wie… und dann setze ich eine Figur ein, die mir aus der Distanz erscheint. Manchmal hilft das, wenn diejenige Figur sagen würde: Dieses oder jenes ist jetzt nicht gut! Ich habe früher beim Dichten sehr oft an Oswald Wiener gedacht. Das hat sich irgendwann einmal gegeben.

STANDARD: Setzt man sich beim Dichten bewusst Druck aus?

Czernin: Die Frage lautet: Was ist das Bestmögliche in einem gegebenen Zusammenhang? Solche Über-Ichs helfen einem bei dessen Bestimmung. So etwas kann furchtbar in die Irre führen. Wie gelangt man zu einer solchen Instanz? Wie kann man gewährleisten, dass sie nicht bloß furchtbar verschroben ist?

STANDARD: Ist es wie bei Samuel Beckett? "Neuerlich scheitern, besser scheitern"?

Czernin: Das gefällt mir sehr. Der Anspruch ans Gelingen, der ja ins Unendliche erhöhbar ist, gleicht irgendwann einer unendlichen Zahlenreihe. Es geht immer noch weiter, es könnte immer noch besser und anders sein. Darum ist das Scheitern am höchsten Anspruch gleichsam vorgegeben.

STANDARD: Wie schwer fällt es heute, Poesie und die dazugehörige Poetik als Medium von Erkenntnis zu behaupten? Das dazu beiträgt, uns die Möglichkeiten des Verstehens begreiflich zu machen?

Czernin: Die Vorstellung, dass man Poesie als Erkenntnismedium ernst nimmt, ist selten geworden. Denn wenn Erkenntnis bedeutet, verallgemeinerbare Strukturen oder Ordnungen zu entdecken, also nicht bloß subjektiven Gefühlsausdruck zu betreiben oder irgendwelche Einzelbeobachtungen anzustellen, dann wird dieser Anspruch nicht sehr oft für realistisch gehalten. Ich weiß nur nicht, ob das jemals anders war. Der Enthusiasmus für die "experimentelle Literatur" lag früher oftmals darin begründet, dass man glaubte, sie schlösse gesellschaftliche Realitäten auf. Man glaubte, es handle sich gegenüber der Wissenschaft um eine andere, dieser gleichwertige Erkenntnisform.

STANDARD: Warum löst das Beiwort "experimentell" vor dem Begriff Literatur heute so oft Naserümpfen aus?

Czernin: Vielleicht aus Enttäuschung. Wenn man liest, erhofft man sich durch den ganzheitlichen Anspruch von Literatur, dass sich einem sehr viel Wesentliches eröffnet. Dann liest man solche experimentellen Texte wieder – und findet sie von der Alltagssprache sehr weit entfernt. Das ist bis zu einem gewissen Grad frustrierend. Nach einer Weile – nachdem die Welt weiterläuft – seufzt man: Bitte nicht schon wieder irgendeine grammatikalische Komplikation! Das bringt doch nichts mehr! Dazu passt das Aufkommen einer generell restaurativen Stimmung.

STANDARD: In gesellschaftlicher Hinsicht?

Czernin: Die hat das beschriebene Problem noch verschärft. Wie ordnet man diese Unzahl von Kräften, die im Spiel sind, wenn man bloß ein einzelnes Wort gebraucht? Plötzlich bemerkt man auch die Patina, das Abgestandene an 40 Jahre alten experimentellen Texten. Daraus resultiert Abwehr. Dass diese womöglich naiv ist oder restaurativ, einhergehend mit entsprechenden politischen Tendenzen, liegt auf der Hand.

STANDARD: Ließe sich der Betrieb heute noch vorführen? Indem man einen Text unter "falschem" Namen, als Fake, den Lektoraten unterjubelt?

Czernin: Ich glaube nicht. Heute herrscht Konsens über eine Literatur, die eher Unterhaltungs- oder Entspannungsfunktion hat. Stimmt das überhaupt? Vielleicht handelt es sich um eine Mischform, die Unterhaltsames enthält oder an die "großen" Themen anschließt. Vielleicht braucht man diese mittlere Literatur. Schon in den Anfängen der Literaturkritik wurde von Autoren gefordert: "Was immer ihr stilistisch treibt, ihr müsst die großen Themen behandeln!" Damals stellte man sich darunter Religion oder Moral vor. Heute wird dann eben ein Roman über Corona geschrieben. Da bin ich skeptisch. Aber alles kann natürlich irgendwie gelingen.

STANDARD: Von Ihnen sind keine Corona-Gedichte zu erwarten?

Czernin: Nein, ich bedaure eher, dass ich das Wort Corona nicht verwenden kann, weil es derart kontaminiert ist. Ich arbeite seit Jahren an Dante-Verwandlungen. Da wäre dieses Wort – die "Krone" – für mich sehr nützlich. Besitzt nicht der Mond eine "Corona"? Doch ist das von mir womöglich kurzsichtig gedacht. Vielleicht ist das Wort in zehn Jahren von dieser aufdringlichen Aktualität ohnehin reingewaschen. (Ronald Pohl, 7.1.2022)