Die heutige Zeit ist insofern besonders, als Antiutopien nach ganz realen Stoffen geschrieben werden können. Man braucht sich kein 1984 mehr auszudenken, man muss bloß die Augen aufmachen." In Viktor Martinowitschs Roman Paranoia von 2014 zitiert der Protagonist Anatoli Newinski mit diesen Worten seinen Literaturagenten. Dieser bezieht sich auf das Land mit dem "letzten Diktator Europas", in dem sich nach wie vor Motive fänden, die Westeuropa oder den USA schon lange ausgegangen seien. Bei aller Sonderstellung der belarussischen Diktatur und deren machthungrigen Präsidenten Alexander Lukaschenko, in den letzten fünfzehn Jahren sind auch einige Selbstverständlichkeiten liberaler Demokratien gehörig ins Wanken geraten.

Dass 70 Jahre nach dem Tod George Orwells ein Schwung von Neuübersetzungen seines Hauptwerks 1984 und neben der Farm der Tiere gleich drei Comic-Inszenierungen des 1948 verfassten Romans erscheinen, ist vielleicht teilweise mit dem Erlöschen des Urheberrechts zu erklären. Das Interesse dafür lässt sich jedoch nicht allein darauf zurückführen.

Während der Regierungszeit von Donald Trump hat der Historiker Timothy Snyder ein Büchlein Über Tyrannei herausgebracht, das zuletzt von Nora Krug illustriert wurde. In den 20 Lektionen über den Widerstand, so der Untertitel, gibt Snyder Anleitungen zur Verteidigung der Demokratie. Es ist etwas geschehen. Die Überzeugung, dass uns die Institutionen jederzeit vor einem Sturz der Demokratie beschützen könnten, sei "fehl am Platze". Es liege an uns, das demokratische Erbe zu schützen und vor einem Umbau in diktatorische Verhältnisse zu bewahren. Das Instrumentarium dafür bezieht Snyder unter anderem aus Analysen und Beobachtungen von Hannah Arendt oder Viktor Klemperer und eben auch Orwell.

Der in drei Kapitel unterteilte Roman 1984 beginnt damit, dass der Protagonist Winston Smith bei sich zu Hause eine Nische findet, in der er ungesehen von dem ansonsten alles überwachenden Teleschirm Tagebuch schreiben kann. Dass er damit Gefahr läuft, ein Verbrechen zu begehen, ist ihm völlig bewusst. Als er sich dabei ertappt, wie er unwillkürlich "Nieder mit dem Großen Bruder" in sein Buch gekritzelt hat, ist die Überschreitung einer Grenze unwiderruflich.

Gedankenverbrechen

Ein "Gedankenverbrechen" begeht in dem von Big Brother beherrschten Ozeanien allein schon, wer eigene Gedanken hegt. Das Konzept von "Neusprech" setzt sich daher zum Ziel, sämtliche Wörter, die von der Partei unabhängiges Denken überhaupt ermöglichen, zu vernichten, aus dem kollektiven Gedächtnis zu verbannen. Dass Winston Smith ausgerechnet im Ministerium für Wahrheit an dieser Säuberung der Sprache mitarbeitet, verknüpft einige Elemente schneidender Ironie. Indem er seine Gedanken, Reflexionen, Erinnerungen aufzeichnet, besiegelt er sein Todesurteil.

Was Winston Smith zu diesem Akt der Courage bewegt, ist ein Blickwechsel mit einem Mann aus der Inneren Partei namens O’Brien, der ihm die Gewissheit zu vermitteln scheint, dass er nicht alleine ist. Es muss eine geheime Widerstandsgruppe gegen das totalitäre System geben. Darin bestärkt wird Winston durch seine Bekanntschaft mit Julia, in der er zunächst eine Spionin wähnt, die sich jedoch als subversive Gegenspielerin des Systems entpuppt. Ihre Liebesbeziehung, Herzstück des Romans und ein "Akt des Widerstands", nimmt im letzten Kapitel, zynischerweise im Ministerium für Liebe, das die Kammern der Folter beherbergt, ein jähes Ende.

Über das Brechen des unabhängigen und vor allem rationalen Denkens: Illustration aus dem Comic "1984" von Sybille Titeux de la Croix und Amazing Améziane (beide Frankreich), der im Splitter-Verlag erschienen ist.

Schmutziger Strich

Der Comic der Französinnen Sybille Titeux de la Croix und Amazing Améziane, im Splitter-Verlag erschienen, fällt durch seine großformatigen Panels und grafischen Zeichnungen auf, die die Plakatkunst des 20. Jahrhunderts zitieren. Sie verweisen aber auch auf den Inszenierungscharakter eines dystopischen Staates, der von Hass-Minute zu Hass-Woche, von Morgengymnastik, Arbeitstag bis abendlicher Pflichtversammlung durchgetaktet ist. Als Kontrast setzt Améziane einen rauen, schmutzigen Strich ein, etwa in Szenen, die in den proletarischen Vierteln spielen oder den Gegensatz zur klinischen Perfektion der Propaganda signalisieren. Generell prägen flächige Schwarz-Weiß-Kontraste den Comic, wobei die Zeichnerin oft ganze Doppelseiten ins Auge fasst, die mit monochromer Grün-Blau- oder Rot-Braun-Kolorierung unterlegt sind. Ansichten von Winstons Wohnraum von oben veranschaulichen die lückenlose Überwachung durch Big Brother. Scherenschnittartige Zeichnungen wiederum heben etwa Szenen zwischen Winston und Julia hervor.

Ganz anders ist der Gesamteindruck der Comic-Umsetzung des brasilianischen Zeichners Fido Nesti im Ullstein-Verlag, der von seiner kleinteiligen Grundstruktur mit dreimal drei Panels weit seltener abweicht und rundlichere Linien verwendet. Grautöne herrschen bei Nesti neben etwas sparsameren Braun-Rot-Tönen vor. Der Zeichner hält sich an Orwells Einteilung in Kapitel und Unterkapitel und nimmt entsprechend viele Details in seinen Comic auf. Besonders der erste Teil ist daher auffallend textlastig, erst die Dialoge der folgenden Kapitel lösen diese Überladungen mitunter auf. Dagegen verschieben Titeux und Améziane längere Textpassagen in eigene Panels oder an den Seitenrand und schaffen dadurch Raum für das Eigenleben der Zeichnungen. Kürzungen hätten Nestis Comic nicht geschadet, der andererseits mit überraschenden Einfällen groteske Konzepte wie das "Doppeldenk", dem gemäß jemand bewusst Lügen erzählt, an die er jedoch zugleich glaubt, bildlich bloßlegt.

Abgeflachte Darstellungen

Die dritte Comic-Inszenierung von 1984 ist bei Knesebeck erschienen und stammt von den Franzosen Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa. Der Verlag hat unlängst eine hervorragende Comic-Biografie GeorgeOrwells von Pierre Christin und Sébastien Verdier herausgebracht. Derrien und Torregrossa verzichten auf die Kapitel-Struktur von 1984 und gehen auch mit dem Originaltext freier um. Dass die Autoren kürzen, verschieben und paraphrasieren, lockert zwar das Verhältnis von Text zu Zeichnung auf, dafür fällt ihre Umsetzung durch entbehrliche Übertreibungen auf. Ist es etwa nötig, dass eine Prostituierte, die Winston einst aufsuchte, statt "wie 50" (so im Original) wie 70 Jahre aussieht? Gravierender sind allerdings die abgeflachten Darstellungen einiger Figuren, wie beispielsweise im Fall von Syme, der zwar das System durchschaut, sich aber dennoch an den gewaltlüsternen Hinrichtungen ergötzt. Solche Widersprüche sind im Comic geglättet.

Ebenso werden die unterschiedlichen Ansätze von Widerstand eingeebnet, wie sie Winston und Julia jeweils formulieren und die mit der Verschüttung der Geschichte zusammenhängen, die bei der Generation von Julia bereits Wirkung zeitigt. Schließlich betreibt der Comic eine totale Verkitschung der Liebesbeziehung zwischen Winston und Julia.

Sicherheitsversprechen

Von den vielen thematischen Aspekten aus Orwells dystopischem Roman finden sich nicht wenige in gegenwärtigen Diskussionen wieder. Die Stichworte reichen von Sprachregelung ("Neusprech" oder ihre grandiose Steigerung "Quaksprech"), handle es sich nun um politisch korrektes Sprechen oder Methoden von Message-Control, über Freiheitsbeschränkung und Überwachung, gern im Austausch mit Sicherheitsversprechungen, bis hin zu bewusster Falschdarstellung, Faktenverdrehung und Geschichtsklitterung. Vereinnahmungen von linker wie von rechter Seite begleiten dabei den Roman seit seinem Erscheinen. Sein Potenzial, autoritäre Tendenzen zu entlarven, bleibt davon unerschüttert. Von bemerkenswerter Aktualität erscheint der Satz, den Winston in sein Tagebuch notiert: "Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist." (ALBUM, Martin Reiterer, 8.1.2022)