Die US-Amerikanerin Sally MacNamara Ivey beschäftigt sich mehrere Stunden am Tag mit der Lektüre und der Recherche rund um fremde Tagebücher. Warum tut sie das?
Foto: Bret und Stacey Cochrun

Man kann sie für eine Voyeurin halten: Seit 35 Jahren sammelt und liest Sally MacNamara Ivey auf Papier festgehaltene private, persönliche Gedanken von Personen, die ihr gänzlich unbekannt sind. Dabei ist sie nicht auf der Suche nach den Memoiren von Berühmtheiten – auch wenn ihr bereits ein anonymes Reisejournal in die Hände fiel, das sie durch Recherchen Sir Thomas Lipton, dem Gründer der Teemarke Lipton und Selfmade-Millionär, zuordnen konnte.

MacNamara Ivey interessiert sich eher für die großen und kleinen Geschichten der weniger bekannten Leute. Mehr als 10.000 englischsprachige Tagebücher hat die US-Amerikanerin gelesen, ihre Sammlung umfasst Werke von 1792 bis in die frühen 2000er-Jahre.

Stöbern im Intimsten

Manche Menschen vertrauten den Büchern intime Gedanken und traumatisierende Erfahrungen an. War es in ihrem Sinn, dass jemand hundert Jahre später darin schmökert? Oder hätten sie Trost darin gefunden, dass ihr Leben noch weit nach ihrem Tod jemanden bewegt?

MacNamara Ivey sammelt persönliche Notizbücher und versucht, mehr über die Familiengeschichte jener Menschen herauszufinden, die die Schriftstücke hinterließen.
Foto: Jenna Kirk Luoto

MacNamara Ivey ist es wichtig, respektvoll mit diesen Erinnerungen umzugehen. Von einigen erzählt sie nur anonymisiert. Um zu verstehen, warum sie sich rund acht Stunden pro Tag mit den privaten Aufzeichnungen von Menschen früherer Epochen befasst, muss man einen Blick in ihre eigene Biografie werfen.

Unerzählte Geschichten erhalten

Mit 13 Jahren verlor sie ihren Vater – er beging Suizid, wie sie später erfuhr. Die Familiengeschichte väterlicherseits ist düster und nebulös, geprägt von Mord, Alkoholismus, Obdachlosigkeit und vielen Geheimnissen – Genaues kam nie ans Licht. Ihre Fragen nach dem Warum blieben also unbeantwortet. "Ich wünschte, ich hätte ein Tagebuch meines Vaters", sagt MacNamara Ivey. So entwickelte sich ihre Leidenschaft für hinterlassene Erinnerungen: "Ich möchte die unerzählten Geschichten anderer erhalten."

Immer wieder stößt die Sammlerin auf ungewöhnliche Formate – etwa auf Alltagsbeschreibungen aus Sicht eines Zweijährigen und auf das gemeinsam geführte Tagebuch frisch verheirateter Eheleute (im Bild: sie links, er rechts). Mittlerweile kann sie nahezu jede Handschrift lesen.
Foto: Sally MacNamara Ivey

Dazu gehört die Geschichte eines jungen Paars, das 1888 sein erstes Ehejahr in einem Tagebuch dokumentierte – auf einer Seite schreibt sie, auf der nächsten er. Oder das Drogentagebuch, das ein Mexiko-Reisender in den 1990er-Jahren führte und unter Einfluss halluzinogener Pilze mit Gott plauderte. Kürzlich stieß MacNamara Ivey auf ein Journal, in dem eine Mutter das Familienleben und aktuelle politische Ereignisse des Jahres 1913 aus der Perspektive ihres zweijährigen Kindes beschreibt.

Therapie und Empathie

Zu ihren bewegendsten Funden gehört auch das Tagebuch von Olga. Die schwedische Migrantin wurde von ihren Eltern einer religiösen Sekte anvertraut – wie andere junge Frauen, die "auf Abwege" geraten waren. Olgas Aufzeichnungen beginnen bereits damit, dass sie ihrer besten Freundin in deren letzten Stunden beisteht: Diese vergiftete sich aus Verzweiflung über eine ungewollte Schwangerschaft mit Phenol. Etwa 14 Jahre lang führt Olga Tagebuch. "Sie wird zu einer sehr tiefsinnigen Frau – das hat mich beeindruckt", sagt MacNamara Ivey.

Tagebuchschreiben kann therapeutisch sein. Die Sammlerin, die selbst als Zehnjährige damit begann, schreibt vor allem in Phasen der Trauer. Nicht nur nach dem Freitod ihres Vaters, sondern auch nach dem tödlichen Arbeitsunfall ihres Ehemanns verarbeitete sie ihre Gefühle handschriftlich.

Das nimmt Zeit in Anspruch, aber MacNamara Ivey lernte: Trauer, die man für sich behält und abkapselt, ist selbstzerstörerisch. "Durch das Lesen der Trauertagebücher anderer konnte ich diese Zeit überstehen", erzählte sie zuletzt bei der Veranstaltungsreihe TEDx Vienna. "Ich dachte mir: Wenn sie es geschafft haben, kann ich das auch. Ich bin nicht allein. Wir sind nicht allein."

TEDx Talks

Die gesammelten Journale hätten sie verändert. Sie sei besser darin geworden, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind: Hinter jedem steckt eine Geschichte mit schwierigen, leidvollen Episoden, die noch lange nachwirken können.

Analoge Erfahrung

Gleichzeitig konnte sie die Leben anderer verändern. Einige Tagebücher, die McNamara Ivey in die Hände fallen oder die sie auf Ebay erwirbt, verkauft sie als Zuverdienst zur Witwenrente weiter. Als sie das Journal einer Mary Jane aus dem Jahr 1944 zum Verkauf ausschrieb, meldete sich deren Tochter. Mary Jane war an Alzheimer erkrankt. Während die Tochter ihrer Mutter aus deren Tagebuch vorlas, kamen für einen kurzen Moment nicht nur ihre Erinnerungen zurück, sondern auch Emotionen.

Ob man für sich oder die Familie Ereignisse festhält oder Gefühle verarbeitet: Sally MacNamara Ivey kann Tagebuchschreiben nur empfehlen – vor allem die handschriftliche Variante. "Virtuell haben wir Autokorrektur und Rechtschreibprüfung, wir können uns in die eloquentesten Personen verwandeln. Aber sind wir das wirklich?"

Zum handschriftlichen Tagebuchführen gehört auch die sinnliche Erfahrung von Papier und Schreibwerkzeug.
Foto: Jenna Kirk Luoto

Sie sei jedoch keine Technikfeindin, immerhin ist das Internet für die Sammlerin essenziell, um mehr über die Verfasserinnen und Autoren der privaten Notizen zu lernen. Im Podcast "Diary Discoveries" erzählt sie außerdem mit ihrem Partner von Funden in ihrer Sammlung.

Vergänglichkeit und Pose

Doch ein Blog ist schnell gelöscht, und die Online-Selbstdarstellung könne eine andere Art der Dokumentation bewirken, als man sie in einem handgeschriebenen Journal findet. Dazu fallen sinnliche Aspekte weg: der Geruch des Papiers, zwischen die Seiten gelegte Tickets oder Blüten. Vor dem Verschwinden ist ein analoges Tagebuch natürlich nicht gefeit: Man kann Blätter herausreißen oder das Buch gleich ganz verbrennen. Persönliche Nachlässe landen manchmal im Müll oder werden in Kellern vergessen.

"Ich hoffe, die Überbleibsel meines Lebens enden nicht in irgendeinem Lagerraum", schrieb eine Frau in den 2000er-Jahren. Und doch wurden ihre Tagebücher in einem Mietlager entdeckt, ehe sie zur Sammlerin kamen. Sie erzählen von Missbrauchserfahrungen und zählen zu den wenigen Werken in der Sammlung, die nicht bereits mehrere Jahrzehnte alt sind. "Ich wollte ihre Tagebücher beschützen", sagt MacNamara Ivey, "nun sind sie Teil einer Tagebuchfamilie." (Julia Sica, 14.1.2022)