Halböffentlicher Skizzenblock oder: Wie man zeigt, was man hat – Tattoos des Fußballprofis Christopher Trimmel, Kapitän beim deutschen Bundesligisten 1. FC Union Berlin.

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Mitunter müssen Menschen fast eineinhalb Jahrtausende in der Zeit zurückreisen, um saftige Heimaterde unter ihren Füßen zu verspüren. An der deutsch-österreichischen Grenze, berichtet Valentin Groebner, habe im Oktober 2020 eine Polizeistreife einen Zug kontrolliert. Unter den Wachorganen: ein "bewaffneter Polizist in Zivil". Dieser Beamte, gewiss Experte in der Kunst des Tarnens und Täuschens, trug einen Kapuzenpullover mit Totenkopf auf dem Rücken. Doch das eigentliche Rätsel bildete die Aufschrift darunter: "See you in Valhalla". Was wollte der Gesetzeshüter mit dieser höflichen Einladung ausdrücken?

Der Wiener Groebner (59) ist ein in Luzern lehrender Mittelalter-Experte. Als Historiker besitzt er die rundum bewegliche Feder des geborenen Essayisten. Seine Frage ist keineswegs rhetorisch. Was bewegt ein spätmodernes Individuum dazu, sich in die Obhut der Wikinger-Kultur zurückzuwünschen? Zur Erinnerung: Die blonden Raufbolde lebten im Gefolge heftiger Vulkanausbrüche in einer Art Dauerwinter. Sie mordeten, brandschatzten und überließen Frauen und Kinder unterernährt ihrem Schicksal. Ein Haufen unfreiwilliger Junggesellen und Klimaflüchtlinge, die ihre Hoffnungen auf ein Jenseits projizierten, das strikt Männern vorbehalten war. Wer wollte in dieser Gemeinschaft Polizeiwache schieben?

Groebners Buch Bin ich das? besitzt einen merkwürdigen Untertitel: "Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft". Etwa seit Einführung der christlichen Beichte (4. Laterankonzil von 1215) ist der Prozess der Ich-Bildung an die Rechtfertigung gekoppelt. Gleichsam im selben Atemzug kommt Groebner auf Rosa Luxemburg zu sprechen: Selbstkritik sei "Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung", schrieb die große Marxistin 1916. Selbstauskunft ist bloß ein anderes Wort für die Konstitution des Selbst. Man wird, was man ist, indem man es besser unterlässt, so wie alle anderen zu sein.

Ausstellungsstücke

Kein Wunder, dass Groebner sein Wasser auf die Mühlen des Starsoziologen Andreas Reckwitz leitet. "Im Modus der Singularität" werde das eigene Leben nicht einfach gelebt, sondern ausgestellt. Von nun an ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. Wer halbwegs unfallfrei gelernt hat, "ich" zu sagen, publiziert sich – oder das, was er für sein Selbst hält. Heerscharen von Individualisten, Influencerinnen und Co produzieren sich im Netz, indem sie den "Erfolg" an der Zahl ihrer Follower messen. Solche Ich-Produzentinnen in Permanenz generieren Werbewerte, indem sie immerzu "Jetzt!" schreien.

Nie war es voraussetzungsloser, im Singular vorzukommen. Doch die vorgetäuschte Fülle ist mangelhaft. "Je mehr Ich-Auskunft, desto mehr Details will das Publikum wissen", so Groebner. Dabei sitzen die frischgebackenen Singularitäten vor ihren digitalen Spiegeln fest. Freiheit besäße einzig derjenige, der sich verkrümelt oder wenigstens zeitweise "sich verschlampt". So wie Michel de Montaigne, der Ahnherr der Selbstauskunft (Essais, 1580) – der, Pionier der Nabelbeschau, ging unentwegt auf Reisen.

In fünf, sechs Schritten umreißt Groebner die Trainingsfelder des "spätmodernen Subjekts". Mit zähnefletschender Eleganz entwirft er ein Individuum, das die Erinnerungen zu seinen eigenen Gunsten umschreibt ("aufdatiert"), bis von den Tatsachen nichts mehr übrig ist als blasse Zerrbilder. Je intimer die Menschen, desto niederdrückender ihre Anpassungssucht. Sie faseln von "Heimat" und bilden, weil sie sie schwer finden, "Kränkungsgemeinschaften", die vom Ausschluss der Andersartigen zehren.

Halböffentliche Skizzen

Es wäre zum Aus-der-Haut-Fahren. Wenn nicht gerade diese selbst zum Vorzeigefeld unserer Verfassung wäre. Groebners Ausführungen zum Überhandnehmen des gestochenen Körperschmucks bilden einen eigenen Essay. Seine Betrachtung des "halböffentlichen Skizzenblocks aus menschlicher Haut" handelt vom Sichtbarmachen von Gefühlen. Ein spirituelles Musterheft. Die Haut wird zum Werbeträger der Einzigartigkeit. Der Blick der anderen soll auf ganz bestimmte, selbst betextete Stellen gelenkt werden. Das Paradoxon bleibt. Denn ob Kreuz, Engel oder durchstochenes Herz: Die Sehnsucht nach Einzigartigkeit wird meist durch Motive gestillt, die alle bereits kennen. (Ronald Pohl, 14.1.2022)