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Gefangen im ewigen Eis bleiben die Sensationen aus. Das Leben wird öd und dröge. Ereignisse strukturieren die Zeit. Wenn diese fehlen, hilft es auch nicht, zwischendurch von einem Eisbär gejagt zu werden.

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Nun ist es auch schon wieder 177 Jahre her, dass Sir John Franklin mit seinen beiden Schiffen, der HMS Erebus und der HMS Terror, sowie 129 Besatzungsmitgliedern auf der Suche nach der berüchtigten Nordwestpassage ins ewige Packeis fuhr. Dort überstanden die tapferen Seemänner verbürgt drei lange Winter. Dann hörte man nichts mehr, bevor man 2014 und 2016 die Überreste der über den damals bleihaltigen Konservendosen wahnsinnig und vor Langeweile trübsinnig gewordenen Expedition im kanadisch-arktischen Archipel fand.

Immerhin aber taugt das Bild des ewigen Eises, der monatelangen Dunkelheit und der immerwährenden Eintönigkeit mit Bibellektüre und Mensch ärgere dich nicht mit realen Personen unten im Schiffsbauch für ein Zeitgefühl am Stillstand, das mittlerweile viele von uns beschleicht. Weißt du, was du letzten Sommer getan hast? Irgendwas mit mildem arktischem Frühjahr mit minus 20 Grad und keinen besonderen Vorkommnissen? Nein, Blödsinn, wir persönlich halten bei Kreta und Kroatien. Das war im Frühjahr – oder im Sommer davor?

Das Leben im Homeoffice und in der Hausmeisterpanier mit Trainingshose und Schlapfen mag zwar recht angenehm sein, wenn es um erst am späten Vormittag nach dem Zoomen und Skypen betriebene Körperpflege geht. Merke, während einer Videokonferenz sieht dich niemand nach einem Leben ohne Selbstachtung riechen. Für eine dem Menschen zur eigenen Seelenrettung annähernd notwendige regelmäßige Arbeit und Tagesstruktur, die nicht zwangsläufig in depressiv machende Fließbandarbeit oder Fangenspielen mit arktischen Eisbären münden muss, sind die Monate und Jahre der Pandemie und Lockdowns allerdings nicht gerade förderlich.

Nicht schwarz, nicht weiß

Der Mensch tut sich mit dem Zeitgefühl bekanntlich schwer. Die Zeitspanne zwischen Aktion und Reaktion, Handlung und Belohnung und "Ich. Will. Es. Jetzt", kurz: die möglichst rasche Befriedigung der Triebe, kann man sich im nicht schwarzen, nicht weißen, sondern eher beigen Einerlei unserer Tage zwar noch mit handverlesen zwischen die Lockdowns eingeschobenen Urlauben und Garagenpartys schönreden. Für ein sinnerfülltes Leben abseits einer Karriere als Arktisforscher, Einsiedlerin, Verschwörungs-Twitterant, Klangschalenspielerin oder Impfverweigerer dauert der Drang nach Gegenwart und Zukunft mittlerweile aber viel zu lange. Wir befinden uns seit März 2020 in einem großen beigen Loch.

Die Erinnerung reicht aufgrund einer schütteren Ereignisdichte nicht einmal wenige Monate zurück. Die Zukunft der Menschheit, die als Vision überhaupt erst während der Renaissance breite Zustimmung in der zuvor mehr der göttlichen Vergangenheit, dem Dorfpfarrer und dem ewigen Zyklus der Jahreszeiten verpflichteten Menschheit erfuhr, sie ist ungewiss.

Sie wird vielleicht auch als unangenehm empfunden, wenn wir uns unsere vor Verpackungsmaterial von Amazon überquellenden Mistkübel anschauen. Ja, die Sommer werden länger und wärmer werden. Es wird auch viel regnen und sündenfluten, wenn wir nicht gerade verdorren. Zwischen gestern und morgen klafft im Heute ein Loch. Die innere Uhr tickt nicht mehr richtig. Unsere Wahrnehmung verschiebt sich. Mit täglichen Ereignissen lässt sich Zeit in Erinnerungsabschnitte einteilen. Das sorgt für ein normales Zeitempfinden. Die Ereignisse fehlen. Das Leben draußen vor der Tür war nicht das schlechteste.

(Christian Schachinger, 14.1.2022)