"Wie kann eine rationale Spezies nur so irrational sein?", fragt Steven Pinker, der Vernunft und Risikoabwägung einfordert. Das Bild zeigt die Simulation einer Atombombenexplosion über dem Ozean .

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Fleißig ist Niall Ferguson, ungemein fleißig. Dabei meinungsstark. Der in Schottland geborene, in Oxford ausgebildete und seit fast einem Vierteljahrhundert in den USA forschende und lehrende Historiker hat zudem die Gründung einer Privatuniversität im texanischen Austin angekündigt, weil dem Konservativen die von ihm detektierte Intoleranz an nordamerikanischen Hochschulen enragiert.

In einer seiner jüngsten Zeitungskolumnen zitierte der Wirtschaftshistoriker, auch gefragter Redner und Konferenz- und Kongressteilnehmer etwa des Davoser Weltwirtschaftsforums, einen Satz von Winston Churchill: "Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter kann man nach vorn sehen." So etwas macht Ferguson, der gerade am zweiten Teil einer monumentalen Henry-Kissinger-Biografie arbeitet, gern.

Niall Ferguson, "Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft". Übersetzt von Jürgen Neubauer. 28,80 Euro / 592 S. DVA, 2021
Cover: DVA

Und das findet man in Fülle auch in Doom, einer ausgreifenden Monografie. Diesmal nicht über die Rothschilds, das amerikanische Imperium oder den Niedergang des Westens. Sondern über Katastrophen und daraus eventuell resultierende Lehren.

Niall Ferguson schreibt elegant. Und ausnehmend lesbar. In elf Kapiteln plus Schlussbetrachtung plus extraexklusiv für die deutschsprachige Ausgabe im Juni dieses Jahres geschriebener Einleitung promeniert er angeregt durch die Welthistorie, von Grippeepidemien über Pandemien zur Pest und zu Vulkanausbrüchen.

Als er diese Abhandlung im Sommer 2020 zu Papier brachte, nachdem er mit Ehefrau Ayaan Hirsi Ali, einer streitbar engagierten Intellektuellen, und Familie aus Kalifornien ins Ferienzweithaus im spärlicher bevölkerten Montana gezogen war, wollte er ein historisches Passepartout liefern, eine ein- und umrahmende Darstellung, wie Pandemien in der Vergangenheit ausbrachen, welche Letalität und Mortalität sie besaßen, welche volkswirtschaftlichen Schäden sie bewirkten, welche Maßnahmen falsch und welche richtig waren.

Kleine Schritte

Das ist meistenteils instruktiv, an anderen Stellen von erschreckender Nüchternheit. Wenn bestimmte Todesraten früherer Gesellschaften achselzuckend statistisch in Kauf genommen werden, realisiert man, dass Ferguson von eigenen Covid-Verlusten verschont geblieben ist.

Nachhaltig prägt sich aber sein Fazit ein: dass es selten bis nie die Figuren ganz oben waren, die versagten. Sondern dass es mit Regelmäßigkeit der administrative Unterbau war, das gehobene und mittlere Management, eine exekutive Bürokratie von entgrenzt stupender Inkompetenz.

Zugleich wird in diesem Band so deutlich wie ansonsten nur in seinen schnell geschriebenen Meinungsstücken oder noch schneller gegebenen Interviews, dass Ferguson so manches des in Teilen pervertierten, zu anderen Teilen intelligenzbefreit narzisstischen national-idolatrischen Konservatismus der Republikanischen Partei und ihrer Mitglieder verharmlost oder unbehaglich ausblendet.

Armin Nassehi, "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft". 26,80 Euro / 384 Seiten. C. H. Beck, München 2021
Cover: C.H. Beck

Unbehagen. Unbehagen ist ja aktuell virulent. Und zwar allseitig. Ob es nun um individuelle Sicherheit geht. Oder um jene im öffentlichen Raum nachts. Ob es nun materielle ist oder psychische, pharmakologische oder spirituelle. Unbehagen entsteht, wenn Logiken einzelner Systeme funktionell so an Komplexität zunehmen, dass sie nicht mehr miteinander funktionieren wollen. Sondern nur noch gegeneinander.

So der Ausgang diverser Krisen zwischen B wie Bildung und Z wie Zusammenhalt der Gesellschaft. Und: So entstehen die immer lauteren Rufe nach immer schlichteren, eingängigen Retrolösungsvorschlägen. Die ihrerseits noch mehr Unbehagen erzeugen.

Nachdem sich der eloquente Münchner Soziologie-Ordinarius Armin Nassehi 2019 in Muster über die digitale Transformationswelt beugte, folgt jetzt Unbehagen. Der entscheidende Nachteil ist: Nassehi schreibt soziologisch.

So büßt der Band an Spreng- und Überzeugungskraft ein. Und mutiert von einem prognostischen Traktat zu einer binnensoziologischen Fachanalyse, bei der es ratsam ist, erst einmal durch mehrere dicke Bände des Soziologen und Nassehi-Inspirators Niklas Luhmann zu pflügen.

Am Ende plädiert Nassehi für das Gegenteil "großer Würfe". Sein mühsam skizziertes und umständlich benanntes Strategiemodell für gutes Regieren ist antivisionär und lautet "trade-tested betterment". Anders gesagt: kleine Trippelschritte, die permanent auf Fehler und Fehlschläge überprüft werden. Ein Status quo im Zeitlupenmodus.

Globale Prozesse

Christina Figueres und Tom Rivett-Carnac, "Die Zukunft in unserer Hand. Wie wir die Klimakrise überleben". Übersetzt von H. Dedekind. 22,70 Euro / 224 Seiten. C. H. Beck, 2021
Cover: C.H. Beck

Viel konkreter, wenn auch in einem Ratgeberduktus verharrend, sind Christina Figueres und Tom Rivett-Carnac. Sie wissen zudem, wie Praxis geht. Figueres war 2015 Generalsekretärin der UN-Klimakonvention in Paris, er ihr Berater. Beide haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Verheerung und Untergang des Globus unumgänglich sind. Ihnen geht es weniger darum, ausgearbeitete Aktionslisten mit direkt umzusetzenden Praxispunkten an die Hand zu geben. Oder rettende Technologien zu skizzieren. Ihnen geht es um den Wandel der Grundhaltung, der Basismentalität.

So ist es ein anfangs verblüffendes, dann immer überzeugenderes Dokument des Optimismus: Auf den Einzelnen kommt es an, auf den ersten Schritt, auf den ein zweiter, ein dritter folgt, jedes Einzelnen. Das ist anregend, wenn auch zwischendrin sacht befremdend, wenn pseudoreligiöse Anleihen bei einem Buddhismus à la Kleiner Prinz gemacht werden. Und dann gibt es zum Ausklang doch noch ganz praktische Empfehlungen für individuelle Verhaltensänderung, um die Welt resilient zu machen.

Resilienz

Markus K. Brunnermeier, "Die resiliente Gesellschaft. Wie wir künftige Krisen besser meistern können". Übersetzt von Henning Dedekind u. a. 24,70 Euro / 336 Seiten. Aufbau, 2021
Cover: Aufbau Verlag

Resilienz, ach. Auch so ein zur Mode gewordenes Schlagwort, das seiner eigentlichen Wurzeln in der Psychologie verlustig gegangen ist. Resilienz, vor allem sozioökonomische, das ist das Metier Markus K. Brunnermeiers. Seit 15 Jahren lehrt der Niederbayer Ökonomie an der Princeton University in New Brunswick im US-Bundesstaat New Jersey. Aus wohlbestallter akademischer Hochperspektive nimmt er nationale wie globale Prozesse in den Blick.

Was dabei eher wenig in den Blick gerät, ist das, was er selbst schon vor der Haustür beobachten kann: das anthropologisch erratische Faktum menschlichen Starrsinns und unbeirrbar humanoider Vertrottelung. Dazu kommt in den Vereinigten Staaten besonders akut – und durch Covid akzentuiert – ein Bildungs- und Wissensgefälle, das in ideologischen Schützengräben einbetoniert ist.

Universalgeschichte

Der kanadische Sprach- und Kognitionspsychologe Steven Pinker, der fast seit 20 Jahren Lehrstuhlinhaber an der Harvard University und noch länger am Department of Brain and Cognitive Science am Massachusetts Institute of Technology in Boston aktiv ist, machte sich einen Namen mit erfolgreichen Büchern wie Das unbeschriebene Blatt und Wie das Denken im Kopf entsteht.

Vor einem Dutzend Jahren nahm er, mittlerweile sich zum Universalgelehrten akklamierend, sich nichts Geringeres vor, als die Universalgeschichte einer universalen Kraft zu erzählen, der Gewalt. Und zwar als frohe Botschaft. Lautete doch die Leithypothese seiner mit fast 1200 Seiten elefantös geratenen "neuen Geschichte der Menschheit" ketzerisch, dass das 20. Jahrhundert bei weitem nicht das gewalttätigste Säkulum gewesen sei. Im Gegenteil – die Gewalt habe sukzessive bis in die Gegenwart abgenommen.

In zehn Sektionen bemühte Pinker eine imposante Totalität aus unter anderem Militärgeschichte, Ethnologie, Statistik, Politik, Moralphilosophie und, erstaunlich kursorisch, Psychologie. Der Bogen reichte von der Urgeschichte über Inkas, den Dreißigjährigen Bürgerkrieg bis zu Südseekannibalen, von Ötzi zu Saddam Hussein, von Homer über die Aufklärung bis zu Solschenizyn und Hollywoodwestern zurück zu Mordraten im England des 14. Jahrhunderts. Das Ganze war unterhaltsam, ja flott präsentiert, mit, wie das amerikanische Entertainerprofessoren gut können, reichlich Ironie und noch mehr Anekdotischem. Das Ganze war aber entgegen dem Umfang erstaunlich flach.

Dumme Fehler

Steven Pinker, "Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes". Übersetzt von Martina Wiese. 25,70 Euro / 432 Seiten. S. Fischer, 2021
Cover: S. Fischer Verlag

Selbiges trifft nun auch auf Pinkers jüngste Veröffentlichung zu, ein Plädoyer für "mehr Rationalität". Höchst angeraten wäre das ja in Zeiten sich buchstäblich austobender Irrationalität! Nur: Wiederum erweist sich Pinker, von Haus aus eigentlich neurowissenschaftlich fundiert, als arg schwach. Er benennt manches, übersieht aber systemische Zusammenhänge, zumindest lässt er sie unerwähnt.

Das Originellste ist sein Vorschlag, ein Schulfach namens "Rationalität" einzuführen. Inhalt: wie "dumme Fehler" zu vermeiden seien, wie Risikoabwägung passiere, wie man Paradoxien, die viele in heillose, besser gesagt: in unheilige Verwirrung stürzen, entschlüssele. Rationalität soll, kurz gesagt, neuerlich bürgerliche Tugend werden. Neuerlich?

Bei vielem seiner Wahrheits-Rejustierung nickt man gelangweilt: Peer-Review-Verfahren in der Wissenschaft, Gewaltenteilung, weniger Juristen, dafür mehr Wissenschafter im Parlament. Ja, eh. Bei anderem bleibt es diffus. Wie will er etwa, so sein Vorschlag, Wahlentscheidungen, die durch in- oder ausländische Propagandaeinflussnahme manipuliert wurden, mit beratenden Gremien flankieren lassen? Pinkers "zentrales Rätsel" bleibt unbeantwortet: "Wie kann eine rationale Spezies nur so irrational sein?" Tja, wieso nur? Und warum ist das genau die Frage, auf die man sich eine Antwort erhofft? (Alexander Kluy, ALBUM, 16.1.2022)