Wien – Wie lange kamen Politikerinnen und Politiker in den weitaus meistgesehenen TV-Nachrichten zu Wort? APA-Defacto, eine Tochter der österreichischen Nachrichtenagentur, zählte auch 2021 aufmerksam mit und erstellte für den STANDARD die Jahrescharts der Politpräsenz in ZiB1 und ZiB 2.

Sebastian Kurz brauchte 2021 nur etwas mehr als zehn Monate, um mit gut 7300 O-Ton-Sekunden in den beiden großen ORF-Newsformaten an seine ohnehin schon soliden Jahresspitzenwerte vor Corona anzuschließen. Im ersten Pandemiejahr 2020 sprach der Kanzler mehr als 15.000 Sekunden in den zwei großen ZiBs, Live-Übertragungen von Pressekonferenzen nicht mitgerechnet.

Auf die TV-Sekunden im September und Oktober 2021 zur Umfrage- und Inseratenaffäre, die zum Rücktritt als Bundeskanzler führte, hätte Kurz vermutlich gerne verzichtet.

75 Prozent der O-Töne von Politikern in der ZiB um 19.30 Uhr kamen aus den Regierungsparteien, etwas weniger als die 77 Prozent im Jahr zuvor.

Die ÖVP kam in der ZiB 1 um 19.30 Uhr auf 47 Prozent, die Grünen auf 21. In der ZiB 2 mit ihren ausführlichen Interviews hatten ÖVP-Politiker und -Politikerinnen 45 Prozent, die Grünen 28. In der ZiB 2 war Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) länger am Wort als der nunmehr ehemalige Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz

ORF-Chefredakteur weist Eindruck von Regierungslastigkeit zurück

Matthias Schrom, als Chefredakteur zuständig für die ZiBs im ORF, weist den Eindruck von Regierungslastigkeit auf Anfrage zurück: "Wenn regierungslastig bedeuten soll, dass Regierungsvertreter und -vertreterinnen öfter zu Wort kommen und öfter kritisch hinter- und befragt werden, dann ist die Antwort sicher Ja. Das liegt allerdings in der Natur der Sache und ist kein ORF-Spezifikum, sondern ein journalistisches Spezifikum. Wer Entscheidung und Verantwortung trägt, wird in allen Medien weltweit höhere Präsenz aufweisen, weil die Aufgabe von Journalismus ist, die Verantwortlichen an ihrer Verantwortung zu messen."

Das gelte für Print, Online, Radio oder Fernsehen weltweit – unabhängig davon, ob es öffentlich-rechtliche oder Privatsender sind, erklärt Schrom.

Kritisches Hinterfragen vermisste zuletzt etwa die Süddeutsche Zeitung in der ZiB 1, von "unkommentierten Durchhalteparolen", einem "Hauch von Propaganda" und einer "Mutmacher-Sendung" war da die Rede.

"Kritisches Dranbleiben"

Der Vorwurf einer "Mutmacher-Sendung" ist Schrom neu, häufiger hört er das Gegenteil, erklärt er – und beides sei "falsch oder liegt im Auge des Betrachters".

Schrom: "Die Pandemie ist zweifellos auch in der ZiB 1 ein dominierendes Thema, weil Corona an sich ein gewichtiges Thema im Leben der Menschen ist. Wenn Beiträge über das Datenchaos bei der Erhebung der Neuinfektionen, das kontinuierliche, kritische Dranbleiben an mangelhaften Teststrategien, der oft wenig nachvollziehbare Kurs der Schulpolitik oder die teilweise nur sehr schwer nachvollziehbaren Entscheidungen einzelner Bundesländer als regierungsnah ausgelegt werden, muss regierungsnah neu definiert werden."

In der Jahresbilanz der TV-Präsenz äußerten sich Vertreter aller Parteien am längsten zur Pandemie. Mit einer Ausnahme: FPÖ-Politiker kamen am häufigsten zu Parteiinterna, insbesondere dem Obmannwechsel von Norbert Hofer zu Herbert Kickl, zu Wort.

Weniger weibliche Stimmen

Der Frauenanteil an den O-Ton- Sekunden ist 2021 sowohl in der ZiB1 als auch in der ZiB 2 zurückgegangen, er liegt nun bei 25 Prozent.

Beiträge über Frauen mit O-Tönen aus Parlamentsparteien gab es vor allem in zwei Zusammenhängen – dem Weltfrauentag und Femiziden.

(Harald Fidler, 27.1.2022)