Ein Herz im Winter: Louise Glück, US-Poetin der lakonischen Wendung.

Foto: Daniel Ebersole

Schwerer als jeder Verlust von Hab, Gut oder Gedächtnis wiegt derjenige des Reisepasses. Gestrandet vor einem Hotel mit Meerblick, muss die nunmehr namenlose Globetrotterin mit Essensresten anderer den Hunger stillen. Ein Kellner bringt ihr, die im Freien hockt und ihr Fernweh mit der Betrachtung von Postkarten kuriert, "die übrige Kartoffel oder ein bisschen Lamm". Und es fällt schwer, in dieser Gedichtwendung nicht an die Verblüffung zu denken, die die Auszeichnung von US-Autorin Louise Glück (78) mit dem Literaturnobelpreis 2020 hervorrief.

Kaum hatte sich die erste Überraschung gelegt, wurde Glücks Poesie mit freundlicher Herablassung abgetan: die für Verfasserinnen von Gedichten mildeste Form des Tadels. Auch wenn das Komitee in Oslo ausdrücklich die "Unverwechselbarkeit" dieser gedämpften, jedoch niemals vernuschelten Stimme pries. Die Ostküstendichterin Glück hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Gedichtbände vorzuweisen, zahlreiche Essays, "Book Awards", Pulitzerpreis, Lehrbefugnisse. In unserem Sprachraum wurde zuerst ihre Übersetzerin Ulrike Draesner einvernommen, was es denn mit diesen auf die Veränderung feinster Nuancen geeichten Gedichten in Wahrheit auf sich habe.

Die Antwort wurde pflichtschuldig erteilt: eine ganze Menge. Nur darf man sich vom alltagssprachlichen Ton, dieser fast Rilke’schen Natürlichkeit im Ausdruck, nicht ablenken lassen vom eigentlichen Gehalt. Anders gesagt: Selbst Poetinnen von der Weltgeltung Louise Glücks müssen häufig mit den Brosamen vorliebnehmen, die vom Tisch des Literaturbetriebs für sie abfallen.

Vorteilhafter Tausch

In Wahrheit erzählt Louise Glücks eingangs erwähntes Gedicht Die Verleugnung des Todes, ein suggestives Beispiel aus dem Band Winterrezepte aus dem Kollektiv (im Original: Winter Recipes from the Collective), von einem vorteilhaften Tausch. Denn kaum hat die Reisende ihren Pass zurückerhalten, wirft sie ihn ins Meer. Ein "Concierge" genannter Mann nimmt stattdessen die Exilierte am Arm und führt sie um einen See herum: um die leere, stille Mitte "im Herzen der Dinge".

Das neue Buch der Literaturnobelpreisträgerin von 2020 gleicht einem Übungsprogramm. Wie auf Zehenspitzen bewegt sich Glück hinein in ein Dämmerreich der Lakonie. Sucht mit asiatischer Gelassenheit die Nacht auf, in der sich erst die Leuchtkraft der Seele bewährt. Pflückt Moose und presst sie ausgiebig präpariert ("mit wildem Senf und kräftigen Kräutern") in ein "belebendes Winterbrot". Dieses "Brot der Bedrängnis" schmeckt nicht besonders gut. Aber man isst es eben, weil man zum Weitermachen verdammt ist, "wie Matze in der Wüste". Glücks Heroismus sieht der Aufkündigung jeder heroischen Pose zum Verwechseln ähnlich. Es bedarf des Muts einer Löwin, um auf jegliches Gebrüll verzichten zu können.

Gelegentlich meint man, Louise Glück drücke auf die gegenständliche Welt ein Löschblatt: Ihre nunmehr von der Lyrikerin Uta Gosmann in ein geschmeidiges (nur manchmal etwas umständliches) Alltagsidiom übersetzte Sprache leistet wirkungsvolle Entfettungsdienste. Das allmähliche Abklingen der Vitalität ist unumkehrbar. Doch von Ergebung findet sich in diesen kalligraphisch zarten Verlustanzeigen kaum eine Spur. Denn, wie es in Herbst (Autumn) heißt: "Der Herbst nahte. / Doch erinnere ich mich, / dass er immer schon nahte, / sobald die Schule aus war." Einmal sitzt die lyrische Sprecherin mit ihrer "Schwester" vor dem "Gemeinschaftsraum". Gemeinsam trinkt man "Gin ohne Eis". Die vorbeieilenden Krankenschwestern? Lächeln zufrieden, weil sie irrtümlich meinen, ihre Patientin sei dabei, sich "gut zu hydrieren".

Bei Beckett in der Schule

Vielleicht ist diese famose Poetin eben auch bei Beckett in die Schule gegangen: eine Lehranstalt, die noch offen hat, wenn alle anderen Schulen längst geschlossen sind. Man muss dem "bedrohlichen Quellen" der Dunkelheit eben das eine oder andere Schnippchen schlagen. Damit Atem genug bleibt zu sagen: "Alle Hoffnung ist dahin. / Wir müssen zurück, wo sie verloren ging, / wollen wir sie wiederfinden." (Ronald Pohl, 5.2.2022)