An der KPÖ in Graz könne sich die Bundes-SPÖ ein Beispiel nehmen, meint Psychologe Daniel Witzeling in seinem Gastblog.

Wir leben in zunehmend schwierigeren Zeiten von Veränderungen auf verschiedensten Ebenen. Von tradierten Rollenbildern im Umbruch bis hin zu gewaltigen politischen Disruptionen. Die eigene Identität und ein individuelles Wertekonstrukt sowie eine soziale Einordnung in derart komplexe Lebenssituationen zu finden wird zusehends diffiziler. Kommen in unser bereits schon schwer zu managendes Alltagsleben noch weitere Störfaktoren hinzu, wird uns das Spiel des Seins nicht unbedingt leichter gemacht. Bei derart herausfordernden Rahmenbedingungen ist es auf dem breiten Feld der Politik umso wichtiger, greifbare Entscheidungsträger zu haben, die durch Integrität, Nachvollziehbarkeit und Authentizität hervorstechen.

Der Wähler als emotionaler Seismograf

Der mündige Bürger und die mündige Bürgerin stellen - zumindest mittel- und langfristig gesehen - einen validen emotionalen Indikator für relevante gesellschaftliche Veränderungen dar. Man kann sich über die Corona-Demonstrationen und die dort auftretenden Proponenten amüsieren, das Gaudium der Verhaltensbeobachtung mit gewissem Sicherheitsabstand hat jedoch möglicherweise am nächsten Wahltag ein jähes Ende. Die schockierten und ungläubigen Gesichtsausdrücke könnten analoge Formen zu jenen bei der Nationalratswahl 2017 annehmen, als ÖVP und FPÖ vorne lagen. Dieses Mal wahrscheinlich nicht mit einer starken ÖVP, dafür aber mit einer Wiederauferstehung der Freiheitlichen und anderen Protestbewegungen wie der MFG.

Mehr Sozialdemokratie wagen?

Die wohlige Sicherheit von ÖVP und SPÖ, die Mehrheit hinter sich zu wissen, ist ein fataler Trugschluss. Vor allem dann, wenn eine misslungene Kommunikation - wie zuletzt bei der Impflotterie - nicht so aufgeht, wie sich das die momentanen Verantwortungsträger vorstellen.

Bis dato stellte das dritte Lager in Österreich den Nutznießer eines derartigen Kompetenzvakuums dar. Nun haben es aber die Kommunisten in Graz geschafft, in der österreichischen Innenpolitik zumindest auf lokaler Ebene eine gehörige Irritation auszulösen. Dies in einer Landeshauptstadt, die einst mit Alexander Götz einen FPÖ-Bürgermeister hatte, jahrelang von der ÖVP-Galionsfigur Siegfried Nagl regiert wurde und somit keine klassische linke Hochburg darstellt. Den Erfolg von Elke Kahr sollten sich vor allem die Sozialdemokraten in Wien genau ansehen und sich die Frage stellen, inwiefern etwas mehr sozialer Idealismus im Sinne des empathischen Gespürs für die Bedürfnisse der so gerne beschworenen, aber in ihren Emotionen ignorierten Menschen, gut wäre.

Kahr ist seit November Bürgermeisterin von Graz.
Foto: APA/ERWIN SCHERIAU

Form vor Inhalt: Wenn die Seele fehlt

Wir sind es in unserem Alltagsleben gewohnt auf bestimmte Formalitäten Wert zu legen. Nicht ohne Grund hat der nunmehrige Altkanzler, Sebastian Kurz, bei bestimmten Wählergruppen eine derartige Resonanz erzielt. Adrettes Auftreten, höfliches Benehmen, eine gewählte Wortwahl und die perfekte Projektionsoberfläche für Herrn und Frau Österreicher war geschaffen. Über die Substanz dahinter lässt sich vortrefflich streiten.

Rein vom sozial angepassten Verhalten kann sich niemand etwas abbeißen. Die neue Grazer Bürgermeisterin und ihre für österreichische Verhältnisse exotische Bewegung, die Kommunistische Partei Österreichs, stellen eine positive Anomalie in der Politszene dar. Die Frau, die in ihrem Leben nicht nur dessen Schokoladenseiten kennen gelernt hat, hat mit ihrer Art die Herzen der Menschen der steirischen Landeshauptstadt erobert und kann sich nach der "Pressestunde am Sonntag" über weiteren positiven Zuspruch freuen.

Kontrastphänomen Elke Kahr und KPÖ in Graz

Ihre Antworten waren selbst bei kritischen Fragen stets ruhig und bedacht und sprachen vielen Zusehern aus der Seele. Gerade bei dem aufgeheizten Thema der Impfpflicht konnte Kahr eines tun, was derzeit kaum einer anderen österreichischen Politikerpersönlichkeit gelingt, nämlich punkten. Mit ihrer Aussage, dass man Menschen zuhören und diese nicht in die Enge treiben oder eine Schublade stecken sollte, konnte sie viele ansprechen, die sich in den letzten Jahren bei keiner anderen politischen Partei mehr aufgehoben gefühlt haben.

Die Tatsache, sich in der Corona-Debatte nicht moralisch als etwas Besseres sehen zu dürfen, machte die oft zitierte “Kommunikation auf Augenhöhe“ spürbar. Dass Kahr einen großen Teil ihres Gehaltes spendet, zeigt zudem, dass man es hier mit einem gänzlich anderen Politprofil zu tun hat. Würde man das Modell der KPÖ in Graz auf die Bundesebene mit einer neuen Linkspartei übertragen, dann wäre durchaus ein gewisses Wählerpotenzial vorhanden, welches viele Politiker aktuell brach liegen lassen. (Daniel Witzeling, 14.2.2022)

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