Aktuell sind Russland (hier Präsident Wladimir Putin) und Europa in ihren Positionen bezüglich der Ukraine weit voneinander entfernt.

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Die alten Ägypter enträtselten die Sphinx, die antiken Griechen die Orakelsprüche von Delphi – und die modernen Zeitgenossen vertreiben sich ihre Zeit mit der Entschlüsselung von Wladimir Putins Aussagen und Motiven. Schon unmittelbar nach der Inthronisierung des Kreml-Chefs anno 2000 fiel auf dem Wirtschaftsforum in Davos die Frage: "Who is Mr. Putin?", die bis heute nur unzureichend beantwortet wurde.

Dazu trägt der russische Präsident selbst bei, der es als früherer Geheimdienstler liebt, sich die Maske des Unnahbaren und Geheimnisvollen aufzusetzen. Auch in der aktuellen Krise fragt sich die halbe Welt angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze und der Veröffentlichung eines in ultimativer Form veröffentlichten, aber in ebendieser Form auch von vornherein aussichtslosen Forderungskatalogs: Was will Putin eigentlich?

Bei seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron könnte er einen Hinweis gegeben haben. Natürlich nicht in offener Form, doch lässt sich in seine Worte und Gesten – wie so oft – einiges hineininterpretieren.

Macron gegenüber, der als "Stimme Europas" nach Moskau gereist war, um Putin von eventuellen Invasionsplänen abzubringen, demonstrierte er subtil Nähe und Distanz zugleich: Er nahm sich fünf Stunden Zeit für seinen Gast, hielt diesen aber wie zuvor Ungarns Premier Viktor Orbán – und im Gegensatz zu Xi Jinping, den Putin bei Olympia besuchte – auf gehörigen Abstand: Etwa fünf Meter trennten die beiden Staatschefs, obwohl Macron auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo noch einen PCR-Test absolviert hatte.

Putin prophezeit Krim-Krieg

Bei der abschließenden Pressekonferenz erneuerte Putin dann seine Kritik an einer möglichen Nato-Osterweiterung, die Russland "kategorisch" ablehne. Er erwarte einen Krieg zwischen Russland und der Nato, sollte die Ukraine dem Militärbündnis beitreten. Die Begründung dafür lässt allerdings Gedankenspiele zu: So führte er die Krim als Argument für ein Tabu des ukrainischen Nato-Beitritts an. Kiew habe in seinen Grundsatzpapieren Moskau zum Gegner und die Rückgewinnung der Krim zum Ziel erklärt und dabei auch die Anwendung militärischer Gewalt nicht ausgeschlossen.

"Wenn die Ukraine in der Nato ist und mit militärischen Mitteln versucht, die Krim zurückzuholen, werden die europäischen Länder automatisch in einen Krieg mit Russland hineingezogen", sagte Putin. Das wolle weder Russland, noch könne das Frankreich wollen.

Optimistische Interpretation

Was die meisten als Drohung oder zumindest als Warnung verstehen, kann aber auch ein Angebot sein. Und das heißt: Wenn die Ukraine der Nato beitreten will, muss sie zuvor ihre Ansprüche auf die Krim aufgeben und ihr Verhältnis zu Russland regeln.

Solch ein Angebot würde bedeuten, dass sich Russland mit der strategischen Niederlage abgefunden hat, dass die russische Führung bereit ist, die Ukraine aus ihrem Einflussgebiet zu entlassen. Denn in dem inzwischen acht Jahre währenden Konflikt ging es auch immer darum, mithilfe lokaler Konfliktherde wie im Donbass die Politik in der Ukraine als Ganzes mitbestimmen zu können.

Interpretiert man Putins Worte nicht als Drohung, sondern als Angebot, würde das bedeuten, dass sich Moskau mit der Krim als Trostpreis begnügt. Das wäre ein deutlicher Wandel gegenüber dem noch vor kurzem geäußerten Führungsanspruch innerhalb der "russischen Welt".

Kein einfacher Kompromiss

Allerdings wäre auch ein solches Angebot keine einfache Entscheidung für Kiew. In beiden Ländern ist die Zugehörigkeit der Halbinsel eine Frage von nationalem Interesse. Die Mehrheit der Ukrainer wünscht sich eine Rückkehr der Krim, auch wenn knapp die Hälfte das für unrealistisch hält.

Doch egal wie unrealistisch angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen der Ukraine und Russland eine solche Rückgewinnung wäre: Politisch würde Präsident Wolodymyr Selenskyj wie jeder seiner möglichen Nachfolger bei einem Verzicht auf die Krim sein Ende besiegeln. Dass Spekulationen über den Status der Krim die eigene Karriere beerdigen können, musste zuletzt der Inspekteur der deutschen Bundesmarine Kay-Achim Schönbach erfahren, der sagte, die Krim sei "weg". Anschließend musste er zurücktreten, obwohl das Thema in Deutschland weniger Emotionen weckt als in der Ukraine.

Es ist daher nicht abzusehen, dass ein solcher Kompromiss auf absehbare Zeit geschlossen wird. Das dürfte Putin einkalkuliert haben. Trotzdem sind seine Worte interessant, weil sie zumindest mögliche Lösungsvarianten in einem Konflikt ausloten, der inzwischen kaum noch zu lösen scheint. (André Ballin aus Moskau, 8.2.2022)