Der rote Teppich vor dem Berlinale-Palast ist gleich montiert – jetzt muss nur noch das Sicherheitskonzept halten.

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Die ersten großen Filmfestivals dieses Jahres mussten vor der jüngsten Welle der Pandemie noch resignieren. Das Sundance-Festival im winterlichen Utah verlegte seine Ausgabe ins Virtuelle, auch in Rotterdam ließen rasant steigende Fallzahlen keine physische Ausgabe zu. Die Berlinale hingegen geht unbeirrt einen anderen Weg: Am Donnerstag wird die größte deutsche Kulturveranstaltung des Frühjahrs eröffnet und zehn Tage lang als Präsenzfestival mit 2G-plus-Modell abgehalten.

Die Aufsplitterung des Festivals in einen Branchentreff mit späterem Publikumsteil wie noch 2021 war für die Festivalleitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek diesmal keine Option. Dennoch wird auch heuer wenig so sein, wie es vor Covid war: Große Galas wurden gestrichen, nur die Hälfte der Sitzplätze im Kino wird besetzt. Das um ein Fünftel reduzierte Programm hat man in eine dichte Woche hineingepresst. Bereits kommenden Mittwoch sollen die Preisträger verkündet werden, dann folgen Wiederholungen. Die Kontaktreduktion soll ein geringeres Ansteckungsrisiko unter den Besucherinnen und Besuchern garantieren.

Konträre Meinungen

Lohnt sich der Aufwand, und hält das Sicherheitskonzept? Darüber wird in Deutschland bereits aufgeregt diskutiert. Die Meinungen teilen sich dabei ungefähr in jenes Spektrum auf, das auch die Debatte um raschere Öffnungsschritte bestimmt. Kurzum: Das Thema polarisiert. Die einen bezeichnen das Modell als "Flucht in den Ausnahmezustand", die nach hinten losgehen kann; für andere, oft internationale Beobachter, ist es ein gangbarer Weg, um einer gebeutelten Branche unter die Arme zu greifen und auf Kino nicht zu verzichten. Immer wieder ist vom "Gemeinschaftserlebnis" die Rede. Die neue deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sprach von "einem wichtigen Zeichen des Optimismus, der Hoffnung und der Ermutigung".

Man muss jedoch gar nicht die cinephile Rede vom Film als kollektives Erlebnis heraufbeschwören. Schon der Verweis auf eine von Alexander Kluge geprägte "Öffentlichkeit unter Anwesenden" genügt, um in diesem Einsatz für ein geteiltes Kulturerleben ein Wagnis zu sehen, das einzugehen sich lohnt. Wenn ein Großevent wie dieses funktioniert, könnte davon auch eine insgesamt unter Publikumsschwund leidende Kultur profitieren.

Fenster der Vielfalt

Die Berlinale war anders als etwa das viel exklusivere Cannes, das stark auf die Branche ausgerichtet ist, immer ein Publikumsfestival, bei dem die halbe Stadt ein mannigfaltiges Kino entdeckte: Filme, die sich in Streamingforen nicht so einfach aufspüren lassen und überraschungsreichere Seherfahrungen bieten. Und natürlich ist es auch ein Schaufenster für eine unter Corona nicht untätige Filmproduktion – nicht zuletzt die österreichische –, die dringend Sichtbarkeit braucht.

Der seit 2019 zuständige Chatrian wird nicht müde, diese Vermittlerrolle zu betonen, doch auch für das Festival steht viel auf dem Spiel: Einen Reinfall kann es sich nicht leisten. Programmatisch setzt man auf eine Mischung aus arrivierten, oft europäischen Regisseurinnen und Regisseuren sowie neuen Gesichtern wie der Indonesierin Kamila Andini oder Carla Simón aus Spanien – im Nachwuchsbereich geht Berlin einen selbstbewussteren Weg als andere A-Festivals.

Vorfreude und weniger Glamour

Mit Nicolette Krebitz und Andreas Dresen sind nur zwei renommierte deutsche Filmschaffende im Wettbewerb. Mit Vorfreude erwartet wird Avec amor et acharnement von Claire Denis, in dem die Französin Juliette Binoche und Vincent Lindon in einem Liebesdrama zusammenführt. Weitere prominente Namen sind die Schweizerin Ursula Meier, der alljährliche Hong Sang-soo sowie François Ozon, der mit seiner Fassbinder-Revision Peter von Kant die Eröffnung bestreitet.

US-Filme wie Phyllis Nagys Abtreibungsdrama Call Jane sind auf der Berlinale heuer weniger präsent – einen geringeren Glamourfaktor wird man heuer wohl hinnehmen können. Österreich ist mit Ulrich Seidls lang erwartetem Rimini rund um einen Schlagerstar im Wettbewerb vertreten, in weiteren Sektionen mit Filmen von Ruth Beckermann und Constantin Wulff. Kurdwin Ayub zeigt ihr Debüt Sonne, das im April auch die Diagonale eröffnen wird. Seidl und Wulff sind in Graz ebenfalls vertreten.

Es bleibt abzuwarten, ob das Publikum mit den Einschränkungen mitzieht und das Konzept annimmt. Immerhin ist die Corona-Inzidenz in Berlin bereits am Sinken. Das ist ein erstes Signal dafür, dass dieses Berlinale-Experiment gelingen kann. (Dominik Kamalzadeh, 9.2.2022)