Einen Monat nach der konstituierenden Sitzung des irakischen Parlaments hätte am Montag ebendort der Staatspräsident gewählt werden sollen: Das ist nicht nur misslungen, sondern der Zwist hat das Land in eine schwere Verfassungskrise gestürzt. Vor allem jedoch ist der nächste Schritt im politischen Fahrplan nach den Parlamentswahlen, die bereits am 10. Oktober 2021 stattgefunden haben, unmöglich: die Designierung eines Regierungschefs und die Bildung einer Regierung. Und es ist im Moment völlig unklar, wie man da wieder herauskommt.

Im Viertel Sadr-Stadt in Bagdad: Auf dem Plakat sind rechts der Vater von Muqtada al-Sadr, links dessen Cousin zu sehen, beide von Saddam Hussein ermordete Großayatollahs.

Foto: EPA / AHMED JALIL

Der Posten des irakischen Staatspräsidenten ist zwar nicht laut Verfassung, aber seit 2005 gewohnheitsmäßig in der Hand der Kurden: wie die Schiiten den Premierminister stellen – der meist auch Wahlsieger ist, es gibt eine schiitische Bevölkerungsmehrheit – und die Sunniten den Parlamentspräsidenten. Darüber hinaus hatten die beiden "alten" und früher einmal fast gleich starken kurdischen Parteien KDP (Kurdische Demokratische Partei) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) ein strategisches Abkommen: Die KDP stellt den Präsidenten der Kurdischen Regionalregierung in Erbil, zuvor Massud Barzani, jetzt sein Neffe Nechirvan Barzani. Dafür wird ein Kurde der PUK zum irakischen Staatspräsidenten gewählt.

Zwei kurdische Kandidaten

War PUK-Chef Jalal Talabani als Präsident des Irak ab 2005 unbestritten, so gab es nach seiner Erkrankung, seinem Abtritt und seinem Tod 2017 in seiner mittlerweile geschwächten Partei zahlreiche Querelen. Bereits 2018 stieß der Kandidat der PUK, Barham Salih, nach den Wahlen bei der KDP auf Widerstand, er wurde damals dennoch zum Präsidenten gekürt. Die PUK plante, ihn auch diesmal wieder wählen zu lassen – aber die KPD nominierte mit Hoshyar Zebari, einem früheren KDP-Außen- und Finanzminister, ihren eigenen Kandidaten.

Da die KDP in Bagdad mit dem Wahlsieger, den Sadristen des schiitischen Mullahs Muqtada al-Sadr, sowie dem Sunnitenblock zusammengegangen ist, die die Mehrheit im Parlament haben, hatte Zebari reelle Chancen, gewählt zu werden: Der Block wählte gemeinsam auch den sunnitischen Parlamentspräsidenten Mohammed al-Halbusi (wieder).

Kein Konsens

Damit wäre der KPD-PUK-Konsens, ihre Streitereien auf Erbil zu beschränken und in Bagdad in wesentlichen Fragen doch an einem Strang zu ziehen, endgültig dahin. Die PUK unterstützt den anderen Teil des schiitischen politischen Spektrums, den "Schiitischen Koordinationsrahmen". Zu ihm gehören unter anderem der politische Arm der iranisch gestützten schiitischen Milizen, Fatah, und der umstrittene Expremier Nuri al-Maliki.

Allerdings hat inzwischen der irakische Höchstgerichtshof die Kandidatur Zebaris wegen früherer Korruptionsvorwürfe einstweilen suspendiert. Auch der als Saubermann auftretende Sadr hatte zuvor schon Zweifel angemeldet, ob ein Kandidat mit schlechtem Ruf unterstützenswert sei. Mit Zebari aus dem Rennen hätte nun am Montag eigentlich doch – wie vorgesehen einen Monat nach Konstituierung des Parlaments – Barham Salih wiedergewählt werden können: Aber die Sitzung wurde von beinahe allen Fraktionen, auf beiden Seiten, boykottiert.

Unerreichbares Quorum

Für das Quorum im Parlament müssen zwei Drittel der Abgeordneten, 220 von 329, anwesend sein. Das ist bei der verfahrenen Lage in näherer Zukunft nicht zu erreichen. Die 2005 unter US-Führung teilweise recht hingeschluderte Verfassung sieht keinen Ausweg vor. Die KDP scheint derzeit an Zebari festhalten zu wollen, so wie die PUK an Salih. Das Parlament hingegen schrieb am Dienstag die Kandidatur neu aus: völlig unklar, ob das rechtlich überhaupt möglich ist.

Schon ist die Rede von möglichen Neuwahlen – auch die im Oktober waren leicht vorgezogen –, die aber nur Sinn ergeben würden, wenn man die Verfassungslücken vorher schließt. Dem Irak droht, wenn das Vakuum andauert, wieder ein Abrutschen in die Gewalt. Vor allem die Schiitenparteien pflegen in solchen Situationen ihre Anhänger zu mobilisieren. Es gibt auch eine starke Protestbewegung gegen das gesamte politische Establishment, die 2020 nur von Corona von den Straßen vertrieben wurde. Sie hatte jedoch 2019 einen Regierungsrücktritt erzwungen. (Gudrun Harrer, 10.2.2022)