Schaut aus, als würde von unten ein russisches U-Boot die Eisdecke aufbrechen und auftauchen wollen, daneben ein rotes Stahliglu, polygonal aus Fünf- und Sechsecken zusammengeschweißt, zwei Türen, der Eingang in die Bohrlochkammer, und dann kilometerweit nichts als Pipelines bis zum Horizont, bis in die Industriegebiete von Húsavík, Reykjavík und Reyðarfjörður, wo sich die größten Silizium- und Aluminiumwerke Islands befinden. "Der Wasserdampf aus den geothermischen Anlagen ist eine wertvolle Energiequelle", sagt Gregor Sailer. "Heute schon werden in Island rund 575 Megawatt aus Erdwärme gewonnen. Ohne diese Anlagen hätte sich die isländische Schwerindustrie hier wohl niemals angesiedelt."

Eine geothermische Energiestation in Bjarnarflag im Nordosten Islands.
Foto: Sailer / Kehrer Verlag

Das Kraftwerk in Bjarnarflag neben dem Mývatn-See im Nordosten Islands, eingezäunt und bewacht wie so vieles im polaren Norden dieser Welt, ist nur eine von vielen Anlagen, die der Tiroler Fotograf in den Jahren zwischen 2017 und 2021 mit seiner Sinar-Laufbodenkamera auf die Filmplatte bannte. Die Begehrlichkeit des 42-Jährigen gilt dabei aber nicht so sehr dem Seltenen, Exotischen als vielmehr all jenen versteckten, in der Regel verborgenen Infrastrukturen, die Teil eines geopolitischen und globalwirtschaftlichen Netzwerks sind und hinter denen sich eine ebenso komplexe militärische Überwachungsmaschinerie verbirgt.

"Aufgrund der billigen und im Übermaß verfügbaren Energie ist Island ein strategisch wichtiger Industriestandort, zugleich aber müssen die Rohstoffe und veredelten Materialien über weite Strecken mit dem Schiff an- und abtransportiert werden", sagt Sailer. "Viele Länder und Konzerne haben daran Interesse. Daher zählt Island zu den von der Nato am stärksten überwachten Regionen auf der Nordhalbkugel."

Vier Jahre lang besuchte Sailer Kraftwerke, Produktionsstätten, Sendeanlagen, Radarstationen, Bohrinseln, Forschungscamps und ganzjährig eingeschneite Gewächshäuser in der Arktis – die meisten davon jenseits des nördlichen Polarkreises. Sie alle definieren eine rund 21 Millionen Quadratkilometer große Region, um die sich einige Weltmächte und Industrienationen prügeln wie bei einer Schlacht am vereisten Buffet. Im Fokus der Interessen von China, Russland und den USA stehen nicht nur begehrte Rohstoffe wie Öl, Gas und seltene Erden, die aufgrund der in der Klimakrise auftauenden Polkappen nun leichter zugänglich werden, sondern auch neue Schifffahrtsrouten.

"2018", sagt Sailer, "hat die chinesische Regierung in ihrem Arctic White Paper erstmals die polare Seidenstraße erwähnt. Einerseits sollen die Frachtrouten dadurch um bis zu 40 Prozent verkürzt werden, was den globalen Schiffsverkehr billiger und effizienter machen wird, andererseits wäre diese Route eine attraktive Alternative zum längst überlasteten Suezkanal." Als im März 2021 die Ever Given die Sandböschung rammte und den Kanal verstopfte, stand der globale Frachtverkehr wochenlang still. Solche Super-GAUs möchte China mit der polaren Seidenstraße, die aufgrund der Erderwärmung bis spätestens 2050 eisfrei befahrbar sein wird, künftig vermeiden.

Fahne unter Wasser

"Tatsächlich gibt es viele Instanzen, die von der Klimakrise und Erderwärmung profitieren werden und die aus diesem Grund schon jetzt ihre Reviere in der Arktis markieren", erzählt Sailer. Die politische und wirtschaftliche Machtgier nimmt bisweilen skurrile Züge an: Nachdem Russland seine Konkurrenten überlisten und die Grenzen des Festlandsockels und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Öl- und Gasvorräte geologisch korrekter verankern und dabei nicht nur auf vereistes Wasser setzen wollte, schickte es im Jahr 2007 ein U-Boot los und rammte auf dem Nordpol in über 4000 Meter Tiefe eine russische Fahne in den Meeresboden.

Die ausrangierte Esso-Cassion-Bohrinsel in Tuktoyaktuk in der Beaufortsee
im hohen Norden Kanadas.
Foto: Sailer / Kehrer Verlag

Für sein fotografisches Narrativ besuchte Gregor Sailer rund 20 Destinationen und Einrichtungen in Island, Grönland, Norwegen, Großbritannien und im eisigen Norden Kanadas. Einige andere Reisen wie etwa nach Russland wurden ihm verwehrt oder fielen den restriktiven Corona-Lockdowns zum Opfer.

Die meisten und visuell mit Abstand kältesten Fotos, die vor ein paar Monaten in seinem Buch The Polar Silk Road (Kehrer-Verlag) verewigt wurden, stammen aus dem Forschungscamp East Grip in der Einöde Grönlands, wo seit Jahren Eiskernbohrungen durchgeführt werden, um aus den rund 100.000 Jahresschichten Informationen über die Klimageschichte der Welt zu gewinnen, sowie von der militärischen Überwachungszentrale im kanadischen Tuktoyaktuk, wo sich direkt an der Beaufortsee eine Kontrollstation des North American Aerospace Defense Command (Norad) sowie eine von insgesamt 50 Radarstationen des North-Warning-System-Netzwerks (NWS) befinden.

"Ich finde die militärischen Einrichtungen faszinierend, weil sich aufgrund des Klimas und der in diesen Breitengraden verfügbaren Baustoffe ein typischer Farb- und Formenkanon entwickelt hat", erzählt Sailer. "Meistens wird mit Stahl gebaut, die Kugeln und Polyeder sind allgegenwärtig, und die häufigste Farbe ist Weiß, gelegentlich findet man auch rote und schwarze Bauten." In den meisten Fällen, sagt der Fotograf, der bei minus 55 Grad Celsius fotografieren musste, verschmelzen die militärischen Einrichtungen mit der Landschaft oder verschwinden gleich ganz im Schneesturm.

Gregor Sailer, "The Polar Silk Road". € 59,70 / 272 Seiten. Kehrer Verlag, 2021
Foto: Sailer / Kehrer Verlag

Gespenstisch

Ein Objekt hier oben auf 69,4 Grad nördlicher Breite (kleines Foto) hat es ihm besonders angetan – und zwar die achteckige, rund 120 Meter breite Esso-Caisson-Bohrinsel, die 1982 in Japan gebaut und nach Beendigung ihrer fossilen Dienste vor einigen Jahren technisch ausgeweidet und in die Bucht von Tuktoyaktuk geschleppt wurde, wo sie seitdem im Wasser treibt und jeden Winter von meterdickem Eis eingefangen wird. Das Bild ist gespenstisch, irgendwie bedrohlich. Ein perfektes Setting für einen eiskalten Blade Runner-Film.

"Die Arktis ist geografisch zwar weit weg von uns", sagt Gregor Sailer, "aber die territorialen Dispute, die sich hier oben abzeichnen und die in den nächsten 30 Jahren noch massiv zunehmen werden, betreffen uns alle. Ich hatte die Möglichkeit, diese versperrten Gebiete zu betreten und zu fotografieren. Und ich erachte es als meine Aufgabe, diese Geschichten sichtbar zu machen." Die eingeschneiten Architekturen sind Zeugen eines ziemlich kalten Krieges. (Wojciech Czaja, 12.2.2022)